Musikalische Analyse und Wahrnehmung 305 ren/ Sehen als die Primärsinne übernehmen dabei eine ordnende und strukturie-rende Funktion.32 Wir haben es also mit phänomenologischen Eigenarten der Wahrnehmung zu tun, wenn Musik und Sprache aufeinandertreffen. Man kann zu dem Eindruck ge-langen, verstanden zu haben, ohne aber darüber sprechen zu können oder zu wollen. Sobald aber Sprache ins Spiel kommt, besteigt man gewissermaßen ein Gefährt mit nur eingeschränkter Reichweite. Es will von sich aus auf kurzem Wege seinen Dienst verrichten und die kognitive Distanz überwinden. Das ist aus anthropologi-scher Sicht auch verständlich, hat der Mensch doch die Sprache in erster Linie ent-wickelt, um als Spezies zu überleben. Die damit auch hirnphysiologisch verknüpfte Art des Verstehens wird somit aber zum Passepartout, zur sprachsymbolisch redu-zierenden Engung für die Vielfalt an Sinneseindrücken.33 Oder anders: Die kogniti-ven Konzepte, durch die Sprache und Wahrnehmung unaufösbar ineinander ver-woben sind, nden nur bedingt lexemmetaphorische Entsprechungen. Für die Analyse eines Klangstücks wäre es überdies höchst interessant zu wis-sen, in wieweit greifen die Primärsinne ein in die Wahrnehmung dessen, was ich musiktheoretisch explizieren möchte? Möglicherweise bleibt mir gar nichts anderes übrig, als so zu sehen/hören, wie ich eben sehe/höre, weil ja sowieso alles eine Konstruktion ist. Doch so einfach ist es dann doch wieder nicht. Es gibt ein deutli -ches Ranking, gewissermaßen ein Körper vor Geist. Das unbewusst arbeitende emo-tionale Erfahrungsgedächtnis wacht über die Willensbildung, sowohl beim Entstehen eines Wunsches/einer Absicht bis hin zur praktischen Realisation. Der Mensch wird folglich von seinen Emotionen beherrscht. Der Grund liegt u. a. in der hirnbiologi-schen Gegebenheit, dass die Großhirnrinde und das limbische System eine festge-fügte Einheit bilden. Da hier mit der Amygdala aber auch der Ort der Verarbeitung von Emotionen angesiedelt ist, sind Kognitionen nie frei von Emotionen. Der Zeit-versatz beim Feuern der entsprechenden Neuronen lässt erkennen, dass die Emotio-nen einfach früher bereit sind als das rationale Gedächtnis mit seinen Entscheidun-gen.34 Der Begriff Gefühlsszenario verweist in diesem Zusammenhang auf einen inter-essanten Aspekt. Manche Emotionen lassen sich in der Tat besser musikalisch in Szene setzen als andere. Neid oder Verlegenheit tauchen wenig bis gar nicht als Klanggestalt in Erscheinung, Wut, Raserei, Trauer, Freude hingegen schon, wie kommt das? Es sind doch alles Emotionen im weitesten Sinne. Wie jeder für sich selbst wohl schon einmal erlebt haben dürfte, löst Musik physiologische Prozesse aus, z. B. eine Gänsehaut. Zu beobachten ist eine Vielzahl verschiedener Emp n-dungen und Gefühle, Emotionen im weitesten Sinne, doch diese Vielzahl spiegelt sich nicht in der Wahl der musikalischen Topoi wider. Im Gegenteil, hier besteht ein Ungleichgewicht: Die » unmissverständliche Dominanz der Themen ›Liebe‹, 32 Vgl. Manfred Spitzer, Musik im Kopf: Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Stuttgart 2002.33 In neurophysiologischen Fachkreisen gilt die Prämisse, dass Psychosen, Autismus und aktuell auch ADHS die Folge einer nur unzureichenden selektiven Wahrnehmung sein könnten.34 Roth 2006, S. 13.