306 Gerhard Schmitt ›Schmerz‹, ›Trauer‹[…]« bei der Wahl von Textinhalten » lässt jedes weitere Gefühl als zweitrangig erscheinen[…]« ,35 darf ich den Kollegen Kreutz zitieren. Der Mensch muss sich als Entität Raum und Zeit gegenüber behaupten. Je mehr Musik raumzeitliche Strukturen aufweist, die mit jenen des Menschen übereinstimmen, umso größer wird das Gefühl der Übereinstimmung. Soll heißen, die körperlich-see-lische Disposition resoniert auf eine analoge musikalisch-klangliche Struktur. Wer den Kopf hängen lässt und antriebslos ist, weil er gerade eine große Enttäuschung er-leben musste o. ä., sucht nach dem geeigneten klanglichen Resonator. Natürlich ist auch das Gegenteil möglich, ein Stimulator wäre denkbar, als Ge-genmittel und zum Zweck der Stimmungsanhebung. Doch ist dies nur die andere Seite ein und derselben Medaille. Für den Fall der intendierten Übereinstimmung, muss die Musik dem Gefühl der Trauer einen Raum bieten können, damit sie sich als ein szenisches Objekt manifestieren kann. Auf der lexemmetaphorischen Ebene wird dies deutlich: Trauer lastet, lähmt, paralysiert die vitalen Kräfte etc. ‒ Trauer hat eine höchst körperliche Af nität. Musik ist in der Lage, dies durch ihre ureigenen Gestaltungsmittel in Gefühlsszenarien zu setzen.36 Emotionen stellen darin szeni-sche Objekte dar. Gleichwohl dieses Konzept aus der Kategorie des Sehens stammt, hat das Hören in der Musik deutlich Vorfahrt. Das hängt mit der Besonderheit der Wahrnehmungsweise zusammen. So kann man Lichtwellen beispielsweise auswei-chen, Schallwellen nicht. Daher gibt es das Konzept IN DEN KLANG EINTAU-CHEN, was es so für das Sehvermögen nicht gibt. Grundlegend hat Erwin Straus diesen Unterschied zwischen Hören und Sehen beschrieben. Farbe haftet an einem Objekt, der Klang löst sich ab. Die Entstehung von Klang lässt sich orten und räum-lich wie zeitlich nachvollziehen, mit Farben funktioniert alles dies nicht. Das akusti-sche Differenzierungsvermögen ist beim Menschen ausgeprägter als das optische. Bei der Wahrnehmung von Musik bzw. Klangkunst handelt es sich aber auch um eine synästhetische Wahrnehmung, weil vegetative wie motorische Funktionen glei-chermaßen in Gang gesetzt werden. Für die musikalische Analyse und die damit verbundenen Wahrnehmungsakte ergeben sich nun folgende Pointen: Es gibt keine rein rationalen Analysen, die frei wären von Emotionen. Emotionen und ihre Gefühlsszenarien sowie die Erinne-rungsspuren des Unbewussten stehen dem Es erheblich näher als dem Ich. Aus die-sem mentalen Dualismus erschafft der Mensch Symbolsysteme, in denen verbale, akustisch-musikalische und visuelle Medien beeinfussend aufeinander zugreifen und sich gegenseitig umgestalten. Bei der Analyse eines Musikstücks sollt man sinnvollerweise darauf vorbereitet sein, dass Musikhören das Sehen unbewusst ver-ändert, was natürlich auch umgekehrt zutrifft. Auf was muss ich mich als Analysierender also nun einstellen? Eigentlich auf gar nichts, außer vielleicht darauf, Mut zu beweisen: Mut zur Intuition, zu folgen, zu erwarten, dass die Welt anders begreif- und erfahrbar sein kann, anders, als es 35 Gunter Kreutz, Jede Sehnsucht hat eine Melodie: Basisemotionen in der Musik und im Alltag, in: Mu-sikpsychologie, Bd. 16, hrsg. von Klaus-Ernst Behne (et al.), Göttingen 2002, S. 66–83 (hier S. 78).36 Michael Huppertz, Musik und Gefühl, in: Musik & Ästhetik, 7. Jahrgang, Heft 26, Stuttgart April 2003, S. 5–41 (hier S. 23).