312 Jürgen Oberschmidt zeichnen keine Eigenschaften, die in den Objekten inhärent verborgen liegen und durch Analyse lediglich zum Vorschein gebracht werden müssen. In Wahrheit und Methode beschreibt Hans-Georg Gadamer, wie Begriffe und Kon-zepte in ihrer historischen Vielschichtigkeit betrachtet werden müssen und stellt gleichzeitig fest, dass jene » Wahrheit « , die sich der Kunst abgewinnen lässt, die Konzepte der Wissenschaft, » den Kontrollbereich der Methode übersteigt « :14 Die folgenden Untersuchungen knüpfen an den Widerstand an, der sich inner-halb der modernen Wissenschaft gegen den universalen Anspruch wissen-schaftlicher Methodik behauptet. Ihr Anliegen ist, Erfahrung von Wahrheit, die den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt, überall aufzusu-chen, wo sie begegnet und auf die ihr eigene Legitimation zu befragen. So rücken die Geisteswissenschaften mit Erfahrungsweisen zusammen, die außer-halb der Wissenschaft liegen: mit der Erfahrung der Philosophie, mit der Er -fahrung der Kunst und mit der Erfahrung der Geschichte selbst. Das alles sind Erfahrungsweisen, in denen sich Wahrheit kundtut, die nicht mit den methodi-schen Mitteln der Wissenschaft veri ziert werden können.15 Gadamers Forderungen nach einer kritischen Refexion, die abstrakten Festlegun-gen fernliegt, aber doch gleichzeitig auf festen, begriffichen Fundamenten ruht, le-sen sich für den folgenden analytischen Zugang von Konrad Küster als Programm. Anhand seiner Analyse des Schlusssatzes aus dem Flötenkonzert von Carl Philipp Emanuel Bach in d-Moll zeigt Küster nicht nur, wie sich eine Gattung zwi-schen barocker Tradition des Ritornellkonzerts und einem sich langsam ausformen-den Sonatenkonzertsatz bewegt.16 Während das Konstrukt der Sonatenhauptsatz-form (nun zurecht gestutzt auf den Begriff Sonatenkonzert 17 ) sich als Lehrstoff an Konservatorien und aus der Kompositionslehre um 1900 heraus entwickelte und als zeitgenössisches Modell auf zuvor komponierte Werke übertragen wurde, die zu-dem noch einer anderen Gattung – eben der des Instrumentalkonzertes – angehö-ren, liest sich das Modell Ritornellkonzert 18 aus den Werken und den theoretischen Schriften – etwa aus Quantz ´ Beschreibung des Kammerkonzerts 19 – heraus, die ih-rerseits weit über ihr Entstehen hinaus wirksam blieben.20 Spricht man nun von ei-ner fundamentalen Umbruchzeit, in der Ritornell- und Sonatenkonzert aufeinander 14 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 21965, S. 7.15 Ebd., S. XXVf.16 Ein Entwurf, der Küsters Auseinandersetzung mit der Gattung insgesamt begleitet und für den daher nicht einzig die Umbruchzeit, die Lösung von festgefügten Formen im Sturm und Drang, verantwort -lich gemacht werden kann.17 Durch Donald Francis Toveys Abhandlung The Classical Concerto bürgert sich dieser Begriff ein, da das ohnehin brüchige Modell einer Sonatenhauptsatzform sich bei der Gattung Konzert als noch weniger tragfähig erweist. Hierzu: Donald Francis Tovey, The Classical Concerto, in: Essays in Musical Analysis, Oxford 1989 [1903], S. 3–27.18 Hierzu: Wilhelm Fischer, Instrumentalmusik von 1600–1750, in: Handbuch der Musikgeschichte, hrsg. von Guido Adler, Berlin 1930 [Nachdruck: München 1975], Bd. 2, S. 540–573.19 Johann Joachim Quantz, Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, Frankfurt a. M. 1992, S. 294–300, Reprint der Ausgabe Berlin 1752.20 Hierzu: Konrad Küster, Das Konzert. Form und Forum der Virtuosität, Kassel 1993, S. 23; ders., Forma-le Aspekte des ersten Allegros in Mozarts Konzerten, Kassel 1991.