316 Jürgen Oberschmidt men‹ im Sonatenform-Sinn gibt, erweist sich das viergliedrige Sonatenform-Schema als zu schwach, um den Materialreichtum zu beschreiben.23 Eine » neutrale « Beschreibung von Einzelelementen lässt sich nicht auf einer höhe-ren Ebene schlüssig an eines der gebotenen Konzepte anbinden, die von außen an den Gegenstand herangetragen werden und von denen man alles durchdrungen hält. Zur Verfügung stehen lediglich unterschiedliche theoretische Modelle, die al-lenfalls auf Ähnlichkeiten beruhen und ebenso komponiert werden können, wie musikalische Werke. Die Formmodelle Sonate und Ritornell transportieren dabei un-terschiedliche Blickwinkel, die auch in die Sprache der Analyse hinein getragen werden: Das Ritornellkonzert gründet sich auf statische Materialverhältnisse, der additiven Neuorganisation eines gleichrangigen Materialpools innerhalb eines mehrgliedrigen Ritornells, auf dem Wechsel von Solo- und Tuttiabschnitten. Die So-natenform beruht hingegen auf hierarchischen Strukturen: Haupt- und Seitenthema besitzen thematische Qualitäten, verbunden von » Zwischengruppen « , Überleitun-gen mit eher dienenden, Verbindung schaffenden Funktionen. Die Sonate beruht auf Entwicklung, der Vermittlung eines dramatischen Geschehens, ungeachtet der Tatsache, ob sich dieser Prozess außermusikalisch oder als dramatische Entwicklung in Tönen abspielt. Begriffe der Rhetorik wie » Hauptsatz « , » Seitensatz « , » Exposition « werden direkt übernommen und auch die Dialektik Hegels, das Prinzip von These – Antithese – Synthese, ist letztlich ein rhetorisches Modell, das dem Denken ihres Ur-hebers Adolf Bernhard Marx zu Grunde liegt.24 Bereits auf rein begrifficher Ebene zeigen sich hier die Grenzen des Konzeptes im Rahmen eines Solokonzertes: So macht es keinen Sinn, in Tutti- und Soloexposition zweimal etwas zu exponieren.25 Und presst man die motivreiche Orchestereinleitung des Flötenkonzertes in das Schema eines Sonatensatzes, werden Motive, die in der Ritornellverarbeitung im Fortgang des Satzes ihre thematischen Qualitäten zeigen, zur (bloßen) Überleitung. Anhand der Analyse Konrad Küsters sollte gezeigt werden, wie Musik im Span-nungsfeld ihrer Terminologie und den ihr inhärenten Systemen betrachtet werden kann, jener historisch bedingten Konzepte, die den begriffichen Bestimmungen zu-grunde liegen. Auch wenn sich Küster in seiner zurückhaltenden Verlegenheit dem Zwang einer deutenden Beobachtung entzieht, sind in seine Sprache Kennzeichen geraten, die eine (wenn auch hier nicht explizit vorgetragene) Parteinahme erken-nen lassen: Die Analyse ist geprägt vom mechanistisch-additiven Ordnungsdenken der Ritornellkonzertform und nicht vom hierarchisch organisierten Schema der So-natenform, das einen ›inneren‹ Zusammenhang zwischen den einzelnen Formglie-dern unterstellt und eher einen phänomenologischen Zugang erfordern würde. Eine Auseinandersetzung mit diesem Konzept der Sonatenform, das sich an rhetorische Modelle orientiert, müsste das musikalische Material auch aus dieser Perspektive in den Blick nehmen, indem es etwa auf den sich stürmisch überschlagenden Sprach-gestus oder die energetischen Qualitäten einginge. Die Analyse orientiert sich einzig 23 Ebd., S. 65.24 Hierzu Thomas Schmidt-Beste, Die Sonate. Geschichte – Formen – Ästhetik, Kassel u. a. 2006, S. 202f.25 Hierzu Küster 1991, wie Anm. 20, S. 91.