Aufstieg und Fall des begriffsgeschichtlichen Paradigmas 319 ohne Hinblick auf eine Leitvorstellung, an der sie induziert und ›abgelesen‹ sind, in ihrer umschließenden Sinneinheit gar nicht verstanden werden können.« 40 Die Suche nach musikalischen Titelmetaphern vollzieht sich dabei auf zwei ver-schiedenen Ebenen: Eine Geschichte der Musiktheorie fasst kategoriale Formung als geschichtliches Phänomen und setzt sich mit deren Dogmatiken auseinander,41 die kognitive Musikwissenschaft fragt nach Perzeptionsmustern des hörenden Subjekts und stellt sich die Frage, » ob es zeitlose Beziehungen gibt, auf denen die Aktivitäten des erkennenden und erlebenden Subjekts beruhen könnten.« 42 Von begriffichen Umschreibungen werden historisch bedingte Wahrnehmungs-muster nur unzulänglich erfasst, dies stellt Carl Dahlhaus fest, wenn er den Zusam-menhang von individuellem Hören, d. h. den » gestaltenden Prinzipien im musikali-schen Bewusstsein « 43 , und kollektiver, normierender Begriffsbildung erfasst: » Die Systemerfahrung […] gehört einem kollektiven Bewusstsein an, das sich in einer Wechselwirkung zwischen refektierendem Hören musikalischer Werke und dem Einfuß theoretischer Konzeption bildet. (Die expliziten Theorien sind Ausdruck und begriffiche Fassung der ›Systemerfahrung‹, auf die sie andererseits zurückwir-ken.)« 44 Musiktheorie – » kategoriale Formung des akustischen Substrats als geschichtli-ches Phänomen « 45 – muss längst nicht einseitig historisch bestimmt werden, wie Klaus-Jürgen Sachs dies suggeriert.46 Längst hat auch hier ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Impulse aus der Kognitionswissenschaft gehen in das musiktheoreti-sche Denken ein 47 und zeigen, » daß – nach der erst im späten 19. Jahrhundert ideo-logisierten Idiosynkrasie gegen die Bildfeindlichkeit musikbeschreibender Sprache – die erkenntnistheoretisch fundierte Reintegration der metaphorischen Prozesse ins musikanalytische Kalkül eine der wichtigsten Herausforderungen für die gegen-wärtige Musiktheorie darstellt.« 48 Jede Theorie der Musik muss also » nach den Kategorien fragen, durch die sich eine Ansammlung akustischer Daten überhaupt erst als Musik konstituiert.« 49 In der Analyse Konrad Küsters waren es kategoriale Bestimmungen, die sich zwar ih-39 Vgl. hierzu Michael Polth, Oliver Schwab-Felisch, Christian Thorau, Hrsg., Klang, Struktur, Metapher. Musikalische Analyse zwischen Phänomen und Begriff, Weimar 2000.40 Blumenberg 1999, wie Anm. 13, S. 91.41 Hierzu Carl Dahlhaus, Was heißt Geschichte der Musiktheorie, in: Geschichte der Musiktheorie, Bd. 1, hrsg. von Frieder Zaminer, Darmstadt 1985, S. 8–39.42 Helga de la Motte-Haber u. Peter Nitsche, Begründungen musiktheoretischer Systeme, in: Systemati-sche Musikwissenschaft, hrsg. von Carl Dahlhaus u. Helga de la Motte-Haber, Laaber 1982, S. 49–80, hier S. 78.43 Carl Dahlhaus 1971, wie Anm. 11, S. 98.44 Ebd., S. 109.45 Dahlhaus 1971, wie Anm. 11, S. 104.46 Klaus-Jürgen Sachs, Art. » Musiktheorie « , in MGG2, Sachteil Bd. 6, Kassel u. a. 1997, Sp. 1714–1735, hier Sp. 1715.47 Hierzu: Lawrence M. Zbikowski, Conzeptualizing Music. Cognitive Structure, Theory and Analyisis, New York u. Oxford 2002.48 Christian Thorau, Hinter den Hierarchien: Konsequenzen einer kognitionswissenschaftlichen Mu-siktheorie, in: Helga de la Motte-Haber u. Oliver Schwab-Felisch, Musiktheorie, Laaber 2005, S. 377–388, hier S. 379.49 Ebd., S. 98.