Aufstieg und Fall des begriffsgeschichtlichen Paradigmas 327 Verständigungen zwischen Metapher und Begriff » Man muß etwas Neues machen, um etwas Neues zu sehen.« 85 Musikalische Ana-lyse befasst sich häu g mit der Zergliederung der musikalischen Struktur, um über jenes ästhetische Verstehen,86 das begriffich nicht aufgeht, den Mantel des Schwei-gens zu hüllen: » Wir werden uns nicht dahin verirren, hier noch erläutern zu wol-len, was nur gehört werden braucht, um von allen verstanden zu werden.« 87 Ein gründliches Benennen mit dem operativen Besteck der schulmedizinisch-musikali-schen Analyse lässt sich nur dem Leib der Musik nahe kommen, jenem Röntgenbild, das sich vornehmlich in der gelesenen Partitur offenbart: » Die Begriffswörter […] sind das Werkzeug deiner Analyse, das Medium deines Sehens und Sagens.« 88 Löst man sich jedoch von den etablierten metaphorisch-begriffichen Konzepten der Mu-siktheorie, führt Metaphorologie zu Möglichkeiten, sich auf jene Dimensionen ein-zulassen, die sprachlich zwar durchaus zugänglich sind, aber nicht in Begriffen auf-gehen. Hier gerät Lichtenbergs kreationistische Deutung der Metapher ins Spiel, die ihr einen kognitiven Gehalt zuspricht, der zu neuen Erkenntnissen und Sichtweisen führt. In seinen » Einladungen zu offensiver Wissenschaft « geht Peter Gülke dem Phä-nomen nach, dass Musik mehr betrachtet als gehört wird und durch das Analysie-ren von Papiermusik die lebendige, klingende Erfahrung ausgespart wird: » Hier gibt es viel nachzuholen, in analytischen Betrachtungen nachzutragen, welche bei oft imponierender Eindringlichkeit den Verdacht genährt haben, stärker von gelese-ner als gehörter Musik abgezogen zu sein.« 89 Für Gülke geht es nicht nur um ein neues Grundsatzprogramm von Musiktheo-rie und einer Historischen Musikwissenschaft, die sich einen Ausweg aus dem exis-tenzbedrohenden Abseits des szientistischen Elfenbeinturms bahnt, sondern viel-mehr um einen Paradigmenwechsel, der sich innerhalb veränderter ästhetischer Normvorstellungen vollzieht und außerdem das Reden über Musik in den Kontext der sich im Wandel be ndlichen wissenschaftlichen Darstellungsformen stellt.90 Zwei unterschiedliche Ebenen, die einher gehen und sich gegenseitig bedingen:1.Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es möglich, für eine Darstellung römischer Geschichte mit dem Nobelpreis für Literatur beehrt zu werden,91 bevor sich derartiges Reden gegen den Geist der wissenschaftlichen Spra-85 Georg Christoph Lichtenberg, Vermischte Schriften. Nach dessen Tode gesammelt und hrsg. von Lud-wig Christian Lichtenberg und Friedrich Kries, Band 9, Göttingen 1806, S. 140.86 Eggebrecht 1995, wie Anm. 6, S. 21ff.87 Adolf Bernhard Marx, Ludwig van Beethoven, Bd. 2, 21863, S. 66.88 Eggebrecht 1995, S. 135.89 Peter Gülke, Viel zu tun. Oder: Einladungen zu offensiver Wissenschaft, in: Musikwissenschaft. Eine Po-sitionsbestimmung, hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel u. a. 2007, S. 88–104, hier S. 97.90 Hierzu: Lutz Danneberg und Jürg Niederhauser, ›… daß die Papierersparnis gänzlich zurücktrete ge-genüber der schönen Form.‹ Darstellungsformen der Wissenschaften im Wandel der Zeit und im Zu-griff verschiedener Disziplinen, in: Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast, hrsg. von Lutz Danneberg, Tübingen 1998, S. 23–102.91 Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Zürich 1966 [1854].