Der erste Teil von L’Inde fantôme La caméra impossible (frz. ›die unmögliche
Kamera‹), einer generellen Reflexion über das Filmen in einer fremden Kultur, kann als
Schlüssel für Malles Dokumentarfilmästhetik und seine Auffassung vom cinéma direct
dienen. Bereits im zweiten und dritten Segment des Films erklärt Malle die
Rolle der Kamera und einige Grundprinzipien des Films. Während er die zwei
Frauen filmt, die auf staubiger Erde einige Grasbüschel ausrupfen, ertönt sein
Off-Kommentar: »Elle ne veut pas qu’on la fotografie. Elle y voit un maléfice,
un sort, qu’on allait lui jeter. La fotografier, c’est s’emparer d’elle, c’est lui
voler tout ce qu’elle est. [. . . ] Notre caméra est une arme et elles ont peur de
nous.«332
»Sie will nicht, dass man sie fotografiert. Sie sieht darin eine Verhexung, ein Schicksal, das
man ihr auferlegt. Sie abzulichten heißt, sich ihrer zu bemächtigen, ihr all das zu stehlen, was
sie ist. [. . . ] Unsere Kamera ist eine Waffe und sie haben Angst vor uns.«
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Im nächsten Segment filmt er eine Gruppe von Schäfern, die nachts an einem
Lagerfeuer zusammensitzt. Die Schwierigkeit der verbalen Kommunikation
zwischen dem Filmenden und dem Gefilmten überträgt Malle frei auf die
Kommunikation des Filmemachers mit dem Publikum: »Nous ne savons rien
d’eux, ils ne savent rien de nous. Ça sera cela, ce film, une suite d’images et
d’impressions recueillies sans scénario, sans idée préconçue, un film de hasard, de
rencontre.«333
»Wir wissen nichts von ihnen, sie wissen nichts von uns. So wird der Film sein: eine Reihe
von Bildern und Eindrücken, die ohne Drehbuch und vorgefasste Ideen gesammelt wurden;
ein Film des Zufalls, des Zusammentreffens.«
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Malle gesteht dem Publikum folglich seine zeitweilige Machtlosigkeit vor den
überwältigenden Eindrücken Indiens ein. Er hat nicht den Anspruch, Indien zu
erklären oder verstanden zu haben, sondern versucht lediglich, seine persönlichen
Eindrücke zu schildern. Da sich die Realität in Indien derart von der der westlichen
Welt unterscheidet, werde man häufig durch Bilder, die in der indischen
Wirklichkeit eine gänzliche andere Bedeutung haben, getäuscht und in die Irre
geleitet.334
Als ein Beispiel führt Malle die vor einem Tempel ausharrenden vermeintlichen ›Bettler‹
an, die in Wirklichkeit der höchsten Kaste angehören und Opfergaben empfangen (Vgl. III.
Les Indiens et le sacré). Malle: »Nous avons vite compris que si nous avions seulement
la simplicité de filmer ce qu’on voyait, mais en cherchant à s’informer, il y avait toujours,
derrière ce qu’on filmait, une autre réalité que celle que nous voyions, et qui souvent était en
complète contradiction avec les images.« (Louis Malle in: Comolli/Narboni/Rivette (1969),
S. 33. »Wir haben schnell verstanden, dass die Zusatzinformationen, die wir über die ohne
tieferes Wissen gefilmte Realität einholten, eine andere Realität konstituierten als die, die
wir sahen; eine Realität, die häufig in krassem Gegensatz zu den Bildern stand.«)
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Malle weist seinen Film als uneingeschränkt subjektiv aus, fordert somit in gewisser
Weise Theoretiker wie Siegfried Kracauer und André Bazin heraus, die der
Kamera die besondere Fähigkeit zugestehen, die Wirklichkeit wahrheitsgetreu
abzubilden.335
Vgl. Kracauer (1985), S. 55: »Filme sind [. . . ] in einzigartiger Weise dazu geeignet, physische
Realität wiederzugeben und zu enthüllen, und streben ihr deshalb auch unabänderlich zu.«
Vgl. auch das Kapitel »Das Problem der Kunst« (S. 67 ff.). André Bazin sah das Ideal
in einem naturalistischen Kino, das vorwiegend mit plan-séquences (langen Einstellungen)
arbeiten sollte, anstatt die künstlerisch-gestaltenden Möglichkeiten der Montage und des
Schnitts auszunutzen (Vgl. Bazin, André: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films
(hrsg. von Hartmut Bitowsky, Harun Farocki und Ekkehard Kaemmerling). Köln: DuMont
Schauberg 1975.)
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Die Subjektivität manifestiert sich nicht zuletzt im Off-Kommentar, der auf einem von
Malle in Indien geführten Tagebuch basiert und vom Regisseur selbst gesprochen wurde
(sowohl in der französischen wie auch in der englischen
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