Dabei wirkt die Kamera, die Malle während des gesamten Films selber führt, im Sinne des cinéma vérité bei manchen Personen katalysatorisch. So im Falle einer Angestellten der Kreisverwaltung, Jeanne, die mit Malle über ihr Liebesleben, ihre distanzierte Einstellung zum Machogehabe der Männer und ihre uneheliche Schwangerschaft spricht und die Malle als ›Mme Bovary von Glencoe‹ bezeichnet:
»Jedenfalls saß ich ihr mit der Kamera gegenüber, und wir fingen zu reden an, und es wurde eine Art Beichte daraus. Ich legte eine Rolle nach der anderen ein. Mir wurde klar, daß es etwas für sich hatte, selbst die Kamera zu bedienen. Es war, als führte sie das Gespräch mit der Kamera. Es war, als stellte die Kamera die Fragen. Und sie sprach mit der Kamera, zog die Kamera in ihr Vertrauen. Hätte sie mit mir gesprochen, wäre es nicht gutgegangen. Die Art, wie sie von bestimmten Dingen spricht – weil sie direkt in die Kamera blickt, ist die Wirkung viel intimer und beunruhigender. Als wir fertig waren, bekam sie es ein bißchen mit der Angst zu tun und meinte: ›Ich hätte nie gedacht, daß ich Ihnen das alles erzählen werde.‹«433
Der Film beginnt als eine »liebevolle Studie über die Menschen einer Provinzstadt«,434
»Das Altbekannte ganz anders sehen und so die sichtbaren Entdeckungen auch zu einer entdeckenden Sicht erweitern, das scheint mir das Motto des Films. Und das Resultat: Über die entdeckende Sicht wird das Einfachste erreicht (also das Schwierigste) – die Einheit von Existenz und Essenz, von Ausdruck und Inhalt, von Schönheit und Wahrheit.«435
Durch den Anhang des 1985 gefilmten Materials erweitert sich jedoch die Dimension des Films und rückt ihn thematisch in die Nähe des Spielfilms Alamo Bay. Die allgemein zufriedene Stimmung ist nun unter dem Eindruck einer Wirtschaftskrise in ein unterschwellig rassistisches und antisemitisches Klima umgewandelt, ein Aspekt, der auch an den Film Lacombe Lucien erinnert, zumal beide Filme sich in ländlichen Gebieten abspielen (la France und l’Amérique profonde). Dieser Stimmungswandel wird jedoch nicht in großen Zügen präsentiert, sondern eher beiläufig erwähnt – ein Zeichen für die allgegenwärtige Neutralität des Blickes des Regisseurs. Diese Neutralität findet sich auch in Bezug auf die Porträts der Bewohner Glencoes wieder: »Il n’y a ni caricature ni pathos dans sa manière d’aborder les gens et les événements.«436
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