- 196 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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Der 1974 uraufgeführte Film Lacombe Lucien ist der am kontroversesten diskutierte Spielfilm Louis Malles. Er erschien zu einer Zeit in Frankreich, die von der Wahl Giscard d’Estaings zum Staatspräsidenten und einer damit verbundenen Abkehr vom Gaullismus geprägt war. Der französische Gaullismus war traditionell stets eng mit der Résistance-Bewegung und deren Mythos verbunden. In der Kritik der Cahiers du Cinéma506

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Vgl. Daney, Serge: »Qui dit quoi, mais où et quand?«; Bonitzer, Pascal: »Histoire de sparadrap«. In: Cahiers du Cinéma 250 (5/74), S. 38–47 und Bonitzer, Pascal/Toubiana, Serge: »Entretien avec Michel Foucault«. In: Cahiers du Cinéma 251–252 (7–8/74), S. 6–15
wurde der Film als Beitrag zur ›mode rétro‹ angesehen, einer Ideologie der politischen Rechten, die in diesem Fall die Moral und den Heroismus der Résistance-Bewegung anfocht: »Free from the essentialist Gaullist link with resistance [. . . ], the new ideology aggressively set out to nullify morality in politics by blocking, denying and recoding popular memories of struggle.«507
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Kedward, H. R.: »The anti-carnival of collaboration. Louis Malle’s Lacombe Lucien (1974)«. In: Hayward, Susan/Vincendeau, Ginette (Hrsg.): French Film: texts and contexts. London/New York: Routledge 2000, S. 227–239, hier S. 228

Viele Kritiker, sowohl politisch rechts als auch links stehend, stießen sich daran, dass Malle die Geschichte eines Kollaborateurs und nicht die eines heldenhaften Résistance-Kämpfers erzählte, wobei zu Beginn des Films die Entwicklung und der Ausgang völlig offen sind. Lucien tritt erst dem Kreis der Kollaborateure bei, nachdem er vom Chef der örtlichen Résistance-Gruppe, dem Lehrer Peyssac abgewiesen wird. Er hat danach eine Fahrradpanne, so dass er schieben muss und Figeac erst im Dunkeln erreicht, wodurch er von Aufsehern aufgegriffen wird. Malle selbst hat in mehreren Stellungnahmen die Vorwürfe zurückgewiesen. Anstelle einer Rehabilitation der Kollaborateure lag ihm vielmehr daran, das Handeln eines Menschen in bestimmten Situationen mit all seinen Widersprüchen darzustellen, ohne es jedoch moralisch zu bewerten.508

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Vgl. Louis Malle in Mallecot (1978), S. 49: »[. . . ] j’évitais de porter un jugement sur Lucien, je préférais montrer le comportement d’un personnage avec toutes ses contradictions, et même, d’une certaine manière, tenter de le comprendre.« (»Ich vermied es Lucien zu bewerten; ich zog es vor, das Verhalten einer Person mit all ihren Widersprüchen zu zeigen und in gewisser Weise sogar zu versuchen, sie zu verstehen.«)

Die heftigen Polemiken, die der Film in Frankreich hervorrief, sind nur verständlich, wenn man sich die Brisanz des Themas ›collaboration – résistance‹ vor Augen führt. Diese Periode in der französischen Geschichte (1940–1944) ist für viele Franzosen immer noch ein Stück unbewältigte Vergangenheit, zumal die Kollaborateure teilweise mit nicht gekanntem Fanatismus und Erbarmungslosigkeit gegen die eigenen Landsleute vorgingen.

Nachdem die deutsche Wehrmacht die französische Armee in einem Blitzkrieg besiegt hatte, wurde am 22. 6. 1940 ein Waffenstillstand unterzeichnet. Zu dieser Zeit befand sich der bis dahin noch unbekannte General de Gaulle in London, von wo er die französischen Offiziere und Soldaten aufforderte, mit ihm Kontakt aufzunehmen und den Widerstand gegen Deutschland fortzusetzen. Anders als der greise Maréchal Pétain, der das Oberhaupt der Regierung von Vichy bildete, sah de Gaulle die Entwicklung zum Weltkrieg voraus, in dem die Alliierten letztendlich durch materielle Überlegenheit den Sieg über Hitler davontragen würden. Der Appell an seine Landsleute in Frankreich »wollte ein Aufruf zum geistigen Widerstand, zu einer Haltung des Stolzes und des Mutes sein«.509

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Salentiny, Fernand: Die Geschichte des europäischen Widerstandes gegen Hitler. Der Krieg im Schatten. Puchheim: IDEA 1985, S. 93
De Gaulle lehnte die Vichy-Regierung als illegal ab, stieß dabei jedoch auf mangelnde

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