wobei letzterer
pragmatisch seinen Profit daraus zieht. Somit ist es fraglich, ob Malle diese eventuelle
Beeinflussung der Rezeption durch die Musik bewusst intendiert hatte, da die
schwungvollen Ragtimes letztendlich nur das darstellen, was sie im historischen Kontext
bedeuten: zeitgenössisches Entertainment in bestimmten Situationen. Auch
Jean-Claude Laureux sieht im Gebrauch der im Film verwendeten Musik (hier vor
allem bei der Versteigerungsszene) eine ehrlichere Wahl als im Montieren von
künstlich-dramatischen Stücken, die die Ungeheuerlichkeit der Szene verstärken
würden.611
»Cela va un peu dans le sens de ne pas orienter trop le spectateur, de ne pas lui imposer un
point de vue. Finalement il [L. M.] montre cette vente aux enchères, mais documentairement,
c’est quasiment exact. C’est-à-dire, cette vente aux enchères peut se faire sur un air de
Jelly Roll Morton parce qu’il est dans la pièce à côté, il y joue. Alors il [L. M.] met cette
gaieté, cette légèreté à l’aspect dramatique de la situation. C’est plus honnête que de mettre
une musique qui renforce.« (»Das geht ein bisschen in die Richtung, den Zuschauer nicht
zu stark zu leiten, ihm nicht einen bestimmten Blickwinkel aufzuerlegen. Letztendlich zeigt
er [L. M.] diese Versteigerung in dokumentarischem Sinne, quasi in exakter Darstellung.
Was bedeutet, dass diese Versteigerung beispielsweise von einer Melodie Jelly Roll Mortons
begeleitet werden kann, da er im Raum nebenan gesessen und dort gespielt haben könnte.
So vermengt er [L. M.] diese Fröhlichkeit und Leichtigkeit der Musik mit der Dramatik der
Bilder, was ehrlicher ist, als eine Musik zu verwenden, die die Dramatik verstärken würde.«),
zit. n. Interview mit dem Verfasser, 4. 4. 2001
|
An diesem Aspekt wird deutlich, dass die Unterscheidung zwischen intendierten
Funktionen und möglichen Wirkungen nicht immer leicht fällt. Es zeigt sich, dass auch
dokumentarisch verankerte Musik im On durchaus Einfluss auf die Wahrnehmung haben
kann, zumal wenn die Filmhandlung in einer früheren Zeit spielt und sich die im
Film dargestellten sozialen Werte und Normen samt Moralgefüge verändert
haben.
Im Gegensatz zu Le Souffle au coeur und Lacombe Lucien ist der Einsatz von
Musik in diesem Film nicht eindeutig an Personen gebunden. Eine schlüssige
Musikdramaturgie, in der gewisse Stücke eine Bedeutung erhalten, die an späterer Stelle
wieder abgerufen wird, konnte daher nicht erstellt werden, obwohl einige Stücke
mehrmals erklingen.
Aus unerfindlichen Gründen weicht die Musikdramaturgie der
deutschen Synchronfassung in diesem Punkt vom amerikanischen Original
ab.612
Neben dem vermehrten Einsatz des Stückes Heliotrope Bouquet finden sich noch weitere
Unterschiede. So erklingt u. a. in Segment 13 der Big Lip Blues in einer reinen
Klavierfassung, und in Segment 17 und 18 werden andere Stücke als in der Originalversion
montiert.
|
Das Stück Heliotrope
Bouquet wird in dieser Version613
Im Vertrieb der CIC Video GmbH, Eschborn/Ts.
|
an weiteren Stellen verwendet, so beim ersten Aufeinandertreffen des Fotografen mit
Violet in Segment 11 und bei der Auseinandersetzung wegen der Fotoplatten in
Segment 27. In dieser Fassung könnte der Ragtime folglich für die Beziehung der beiden
zueinander stehen. Eine derartige Hypothese bietet sich jedoch nicht in der
Originalfassung an und muss daher Spekulation bleiben.
Neben der Musik nehmen die Geräusche einen großen Stellenwert ein. Auch sie tragen
dazu bei, die Epoche der Filmhandlung wiederzubeleben.
Es bleibt anzumerken, dass Malle mit großer Präzision eine Musikbegleitung erstellt
hat, die zur Authentizität und Lebendigkeit des Filmes beiträgt. Somit wird der Jazz
und seine Vorläufer Ragtime und Blues in diesem Film zu einem der zentralen Themen
und der Film gleichzeitig zu einer Huldigung an diese Musik, für
|