- 233 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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weiße Kulturindustrie zugunsten weißer Musiker und die ideologische Stützung des Vorgangs durch das Bildungswesen«621
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Jost (1982), S. 79
heraus. Dieser Aspekt ist für die Figurenkonstellation im Film nicht ohne Bedeutung, ist doch Lou, der eine von Weißen dominierte Musik, den Bigband-Swing hört, zumindest zu Beginn des Films noch von seinem ›Arbeitgeber‹, dem farbigen Fred, abhängig.

Lou und Grace schwelgen folglich in der Musik ihrer jüngeren Jahre; der Swing steht hier für die ferne Vergangenheit der dreißiger Jahre. Auch beim zweiten Einsatz des Stücks illustriert es die Erinnerung an frühere Zeiten: wenn Grace (wie Lou in Segment 63) neue Lebenskraft zu schöpfen scheint und Chrissie von ihren ›Betty-Grable-look-alike-contests‹ erzählt und die Szene mit den Worten »I was a princess« beschließt. Die Musik repräsentiert somit die Personen Lou und Grace. Gleichzeitig erfüllt sie dieselbe Funktion in Bezug auf die Stadt Atlantic City, deren Glanzzeit in die gleiche Epoche wie die des Musikstückes und die von Lou und Grace fällt.622

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Die enge Verklammerung von Lou und der Stadt Atlantic City, die durch die Musik und seine Kommentare »It’s a shame you never saw Atlantic City when it had floy-floy.« (S 40) etc. ausgedrückt wird, nennt Maria Ratschewa stilistisch ›psychologischen Realismus‹: »Psychologischer Realismus bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die Menschen den Ort, an dem sie leben, in dem Maße bestimmen, in dem dieser Ort sie bestimmt. Die Präsenz der Stadt ist sehr intensiv. Sie ist nicht nur Dekoration, nicht nur ein beliebiger, an dem sich irgendeine Geschichte abspielt [. . . ] Lou und Sally wirken vielmehr wie Produkte von Atlantic City.« In: Medium 1 (1/81), S. 45. Die Musik trägt daran großen Anteil: Sie verbindet die parallelen Schicksale von Lou und der Stadt.
Die Erinnerung an die Vergangenheit gepaart mit unerfüllten Wünschen erhält in Segment 105 eine neue Dimension. Beim dritten Erklingen des Stücks wird endlich wahr, wovon Grace schon immer geträumt hat: mit Würde an der Seite eines richtigen Verbrechers auf der Strandpromenade zu spazieren. Die Verteilung der Musik folgt demnach einer internen Dramaturgie: Nachdem sie zunächst Lou aus seiner Lethargie reißt, demonstriert sie anschließend das Erwachen von Grace, bis die beiden vereint das Leben auf dem Boardwalk genießen, welches in diesem Fall in der Tat »peaches and cream« ist.623
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Vgl. den Text des Liedes On the Boardwalk in Atlantic City mit der Textzeile »Life will be peaches and cream«.

Piano Blackjack (Take 9/26) In vielen Fällen repräsentiert die Musik in Atlantic City eine soziale Schicht bzw. ein bestimmtes Milieu. Dieses ist der Fall beim Stück Piano Blackjack. Es handelt sich um einen Blues mit erweiterter Kadenz (I-IV-I-IV-I-VI-II-V-I), der von Klavier, Bass und Schlagzeug als langsamer Swing gespielt wird. Er erklingt in der Bar ›Clifton’s‹, in der Dave mit dem Dealer Fred O’Reilly ins Geschäft zu kommen versucht. Die Musik bleibt während des gesamten Gesprächs der beiden im Hintergrund präsent. Sie steht in diesem Fall klischeehaft für die Untergrundwelt in zwielichtigen Bars, in denen Farbige das Sagen haben. Sowohl der unbedarfte Dave als auch der ehemalige Mafiahandlanger Lou werden von Fred mit herablassender Arroganz behandelt. Dazu wird eine Musik montiert, die gerade durch das Idiom des Blues als Schöpfung der schwarzen Bevölkerung angesehen wird. Hier zeigt sich die situationsbedingte Überlegenheit des Farbigen Fred, in dessen Metier sich die beiden Weißen seiner Hierarchie unterordnen müssen.


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