missverstanden.
So muten die engen Gassen und Mauern eher bedrohlich an denn
von »Glücksgefühl« erfüllt, zumal man die Chorfuge (Beginn Takt
179)110
An dieser Stelle löst sich die Musik von den direkten Bildvorgängen und kommentiert die Handlung, indem sie dem aktuell zu sehenden Geschehen vorausgreift und auf den Schluss verweist. Das Take endet in der Partitur in Takt 400 mit einem Kunstschluss kurz vor dem originalen Ende des Requiems. Malle vertauscht folglich die ursprüngliche Reihenfolge der Messe, indem er an dieser Stelle den eigentlichen Schluss des Musikstücks montiert, im Abspann jedoch auf eine frühere Passage zurückgreift (Takte 130–155). Somit nimmt er das Ende der Jill bereits in dieser Szene vorweg. Am Schluss wird deutlich, dass Malle im Filmstar Jill ein Opfer der Unterhaltungsindustrie sieht. Nicht umsonst wird auf der Theaterbühne in Spoleto das Kleiststück Käthchen von Heilbronn dargeboten. Die Parallele zwischen dem schönen, unschuldigen Käthchen und Jill (bzw. Brigitte Bardot) wird hier offensichtlich: Die Einzigartigkeit des Käthchens liegt darin, »daß sie den übertragischen Zustand der Unschuld nicht verläßt. Sie ist damit wirklich als die reinste Verkörperung der Grazie zu betrachten; im Grund ist sie das schon mit märchenhaften Zügen ausgestattete Symbol einer vom Sündenfall unberührten Daseinsart«.111
Und wenn am Schluss Jill in Zeitlupe vom Dach des Patrizierhauses fällt, erscheint ein flüchtiges Lächeln auf ihrem Gesicht und man vernimmt den Text des Requiems: »Requiem aeternam dona eis, Domine: et lux perpetua luceat eis.« Nun wird Jill ewige Ruhe vor der Fotografenmeute und der sensationsgierigen Öffentlichkeit haben. Ihr Tod stellt eine Erlösung als einzigen Ausweg dar, um aus der ungerechten und grausamen Showwelt auszubrechen. Somit steht das Ende stilistisch und formal in mehrfachem Kontrast zum übrigen Film: nach hektischen, schnellen Schnitten nun ein endloses, sanftes Gleiten. Nach einem Leben mit der ständigen Angst vor der Berührung mit der Öffentlichkeit nun eine stille Einsamkeit. Und musikalisch: nach einem Potpourri von bunten Melodien und Motiven nun der verklärende Klang des Libera me, ein Werk mit einer klar beschrifteten Aussage in einem musikdramaturgisch ansonsten eher konventionell gehaltenen Film. Spätestens hier wird klar, dass jeglicher dokumentarischer Aspekt verschwunden ist. Das irreale Ende dient der Verklärung und dem Mythos des Schauspielers, wobei die Darstellung des Todes der Wirklichkeit entrückt ist und als Befreiung inszeniert wird. Ob dieses jedoch auch überzeugt, ist fraglich. Der feierlich-pathetische Schluss kommt etwas überraschend. Wenn Jill zuvor mit dem Charles Cros-Gedicht Triolets Fantaisistes in der Vertonung durch Jean-Max Rivière und Jean Spanos charakterisiert wird, so nimmt man ihr den (musikalisch) naiven Gesang ab, zumal der Text treffend ihre verflossenen Affären ironisiert.112
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