- 72 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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Szene eine unheimliche Irrealität verschafft. Wenn sich Wilson im Folgenden vom Turm stürzt, erklingt ein elektronisch erzeugter langgezogener Ton, der abermals die akustische Umwelt durch die Ohren des Protagonisten wiedergibt: er stellt die Wahrnehmung der Glocken im freien Fall dar. Dementsprechend verstummen diese Geräusche bei Aufprall des Körpers auf dem Kirchhof. In beiden Takes richtet sich die akustische Spur somit nach dem Protagonisten; im ersten Fall als dramatische Steigerung zur sich stetig steigernden Panik Wilsons, in Take 6 als dessen persönlicher Höreindruck. Gleichzeitig schließt sich formal der Rahmen der Erzählung, sowohl visuell als auch akustisch.

Die spannungsunterstützende Musik in den Takes 2 und 5 ähnelt einander. In beiden Fällen handelt es sich um atonale Tonfolgen bzw. Vielkänge, die auf kurzem Raum immer wieder zu dynamischen Höhepunkten geführt werden und dann wieder abschwellen. Take 2 unterlegt den Erwürgungsversuch Wilsons im Schlafsaal des Internats. Er steht nachts auf, versichert sich, dass niemand ihn beobachtet und geht ans Bett seines Doppelgängers um diesen zu erwürgen. Während das Gesicht des Kindes keinerlei emotionale Regung verrät, verdeutlicht die Musik seinen inneren Gefühlszustand: Sowohl die Dynamik als auch die musikalische Intensität steigern sich kontinuierlich, bis Wilson vom Aufseher entdeckt und von seinem Opfer fortgerissen wird, womit die Musik abrupt stoppt. Es lassen sich einzelne Motive ausmachen, die von den Holzbläsern und Pizzikato-Streichern gespielt werden (g1–b2–g1–f1 und c2–h1–fis1–(cis1)). Das Würgen wird durch dissonante Bläsersignale nachgezeichnet.

Take 5 (der Fechtkampf Wilsons mit seinem Doppelgänger) bedient sich ähnlicher Mittel. Die Musik wirkt hier jedoch noch aufgewühlter und zerrissener, was durch Bläsersforzati und Streicherakzente verstärkt wird. Zudem verwendet Masson elektronische Klangerzeugung wie beispielsweise eine Orgel. Die Musik zeichnet auch hier teilweise den Handlungsverlauf nach: Als sich Wilson gegen Ende des Kampfes scheinbar hilflos der Klinge seines Gegners gegenübersieht, ertönt ein markanter dissonanter Klang, und der Sieg des Doppelgängers (er entwindet Wilson den Degen) wird von einem langgezogenen Bläserakkord untermalt, der gewissermaßen das Stocken von Wilsons Atem symbolisiert.

In beiden Fällen vertont die Musik demnach die Gefühle und Empfindungen des Protagonisten (in Situationen, in denen er seinen Doppelgänger töten will) und geben Einblick in den wirren Verstand der »rôle hypertendu de personnage très mal dans sa peau, assez odieux«.171

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Prédal (1989), S. 34 (»sehr angespannte und widerliche Person, die sich überhaupt nicht wohl in seiner Haut fühlt«)
Die Musik, die in den Takes 3 und 4 erklingt, erfüllt wiederum die gleiche Funktion wie die Salonmusik in Le Voleur: Sie kennzeichnet die Situation, das Fest und die Atmosphäre im Salon der Gräfin Giuseppina. Es handelt sich um eine Art Walzer, der auf einer Quintfallsequenz aufgebaut ist (G-dur – C-dur/fis verm – h-moll/e-moll – a-moll/D-dur – G-dur).

Die Hauptfunktion der Musik in William Wilson ist folglich neben den genannten formalen Aspekten die akustische Darstellung der Hauptperson, seiner Gefühle und seiner Wahrnehmung. Die hierbei verwendeten Mittel (Tonsprache der Neuen Musik, elektronische Effekte) verleihen dem Film eine zusätzliche Dimension von Kälte (»froid comme un couteau«, s. o.) und verstärken somit den visuellen


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