- 84 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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»Dies betonte Dominieren der ›schönen Hälfte‹ des Tages, der Nacht, ist ur- und erzromantisch; die Romantik ist darin verbunden mit allem mütterlich-mondmythischen Kultus, der seit menschlichen Frühwelten der Sonnenverehrung, der Religion des männlich-väterlichen Lichtes entgegensteht; und im allgemeinen Beziehungsbann dieser Welt steht Wagners ›Tristan‹.«215

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Auszug aus Mann, Thomas: »Leiden und Größe Richard Wagners«. In: Csampai/Holland (1983), S. 187–193, hier S. 189 f.

Folgende Elemente erinnern an den Film: Der Erwähnung eines ›mondmythischen Kultus‹ und der Tatsache, dass die Nacht Assoziationen zum weiblichen Geschlecht erweckt, die Nacht als Mutter dargestellt wird, entsprechen der Titel des Films, in dem bereits der Mond genannt wird, und die alte Frau im Bett, die offensichtlich die Funktion einer alles dirigierenden Mutter innehat und die (durch ihre Absenz) in der musikalischen Aufführung (S 52–53) durch die Nacht personifiziert zu sein scheint. Dagegen fehlt dem Film eine dominante männliche Figur, da bis auf die Soldaten zu Beginn und den androgyn wirkenden Zwillingsbruder keine maskulinen Protagonisten auftreten. Entsprechend scheint es im Film an keiner Stelle Tag zu werden, das Licht bleibt stets diffus und neblig (ein Beispiel für das Fehlen der ›Sonnenverehrung‹, s. o.).

In Bezug auf die Ausschnitte aus Die Meistersinger von Nürnberg fällt ebenfalls die Korrespondenz von musikalischem Inhalt und filmischer Inszenierung auf. Walther singt in seinem Preislied von einem ›Garten‹ und einem ›Wunderbaum‹. Diese inhaltlichen Aspekte entsprechen der Situation im Film, wenn der Bruder bei der Gartenarbeit singt und im Baum die Zweige abschneidet. Neben der auch hier vorherrschenden Kontrapunktierung (weder ist das Licht im Film ›morgendlich leuchtend‹, sondern wie bereits oben festgestellt milchig trüb, noch handelt es sich um einen ›Wunderbaum, von Früchten reich behangen‹, sondern um die kargen Zweige eines Baumes zur Winterzeit, noch liegt unter dem Baum ›das schönste Weib‹, sondern eine verwesende Soldatin), deren Zweck mit dem Hinweis eines möglichen Verwirrspiels mit dem Zuschauers bzw. einer Ironie einmal dahingestellt werden mag, fällt auf, dass Lily durch die Äußerungen des Bruders, der für sie den einzig männlichen Bezugspunkt darstellt, abermals mit einer Liebe konfrontiert wird, die kompromisslos die Triebe eines Menschen darstellt. Ähnlich wie Tristan und Isolde sind auch Walther und Eva in den Meistersingern füreinander bestimmt und können gar nicht anders, als alles Mögliche zu versuchen um zusammenzukommen. Nur so ist es zu erklären, dass der chancenlose, da unerfahrene Walther an dem Meistersingerwettbewerb teilnehmen will.216

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Vgl. dazu Voss, Egon: »Wagners ›Meistersinger‹ als Oper des deutschen Bürgertums.« In: Csampai, Attila/Holland, Dietmar (Hrsg.): Richard Wagner. Die Meistersinger von Nürnberg. Texte, Materialien, Kommentar. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, S. 9–31, hier S. 11: »Die Liebe lässt sie [Eva] gegen Sitte und Norm verstoßen, [. . . ]. Korrespondierend dazu sagt Eva an späterer Stelle, im 3. Akt, von ihrer Liebe zu Walther: ›Das war ein Müssen, war ein Zwang!‹ [. . . ] Die Liebe kommt als Schicksal über die Menschen, und sie kettet sie aneinander wie durch einen Zaubertrank. In Walther und Eva leben Tristan und Isolde fort.«

Wenn es auch müßig bzw. sogar unmöglich ist, den Gebrauch der Wagner-Musik in Bezug auf den Film vollständig zu interpretieren, so zeugen die herausgehobenen Analogien dennoch von einem tiefen musikalischen Verständnis und Wissen des Regisseurs. Zu eindeutig fallen einige inhaltliche, formale und atmosphärische


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