1 Notenschrift und Notendruck 1.1 Beziehungen zwischen Klang und Notendarstellung Solange es Helden, Könige und andere herausragende Persönlichkeiten gibt, deren Taten ihre Mitmenschen für die Nachwelt bewahrt wissen wollten, solange gibt es auch die Schrift, denn durch sie überdauert bereits Geschehenes mittlerwei-le viele Jahrhunderte. Unser Wissen über uralte Epochen resultiert nicht zuletzt aus Darstellungen in Felszeichnungen – den Petroglyphen –, aus der Semantik alt-ägyptischer Hieroglyphen oder dem Inhalt wieder aufgetauchter Schriftrollen. Dem Wunsch nach Unsterblichkeit ist der Mensch damit, zumindest auf geistiger Ebene, einen Schritt nähergekommen. Voraussetzung ist allerdings, daß die Abschriften noch älterer Originale im Laufe der Zeit nicht eigenmächtig ergänzt oder unver-standene Passagen inhaltlich »zurechtgebogen« wurden. Mit Weiterentwicklung der Kulturen und der damit verbundenen zunehmenden Bedeutung von gesungenen Sprüchen, Erzählungen und Liedern, entstand Bedarf nach einer Schrift zur Konservierung von Musik, da ihr Verfall durch mündliche Überlieferungen vermieden werden sollte.1 Hiermit war eine wesentliche Voraus-setzung zur Entstehung der Notenschrift geschaffen. Im Laufe der Zeit haben die ersten Notationsarten ständig Erweiterungen und Modifikationen erfahren, so daß die daraus resultierende europäische Notenschrift heute scheinbar so perfekt und akzeptiert ist, daß sich diverse Änderungsversuche der jüngeren Vergangenheit nicht durchsetzen konnten. Aus heutiger Sicht hat sich die Bedeutung der Schrift, und vor allem der Noten-schrift, entscheidend gewandelt. Seit der Erfindung analoger und digitaler Aufzeich-nungsverfahren ist es nicht mehr erforderlich, Noten aus Angst vor dem Vergessen der durch sie beschriebenen Musik zu drucken. Dank allgemein erschwinglicher MIDI-Keyboards und -Sequenzer können selbst eigene Werke, die keine Aussicht auf CD-Veröffentlichung haben, produziert und beliebig oft reproduziert werden. Noten sind in diesem Fall häufig sogar überflüssig bzw. können mit Einschrän-kungen aus den MIDI-Daten erzeugt werden (vgl. Abschnitt 2.2). Die eigentliche Aufgabe der Notenschrift liegt also weniger im Bereich der Musikkonservierung als vielmehr im aktiven Musizieren und Analysieren. Ohne Notenvorlage ist es nur schwer möglich, eine Klaviersonate einzustudieren, und eine unbekannte Orche-stersinfonie dürfte ohne Noten kaum bis zur Aufführungsreife gelangen. Darüber hinaus erschließen sich kleine Details genialerWerke oft erst durch eine Analyse des Notentextes. Ihre Resultate erlauben Rückschlüsse auf die Intention des Komponi- 1 Vgl. Wolf (1913), S. 1.