1.1 Beziehungen zwischen Klang und Notendarstellung 15 Abstandsgröße aus. Damit unterliegen die Tondauern auf Seiten des Klangs dem Rubato des Musikers und auf Seiten der Notation einem »Abstands-Rubato« des Notensatzes. Interessanterweise ähneln sich die Beziehungen zwischen klingender und notierter Tonhöhe sowie klingender und notierter Tondauer, denn in beiden Fällen besteht ein logarithmischer Zusammenhang: Einerseits werden exponentiell wachsende Frequenzen auf einem annähernd linearen graphischen Raster notiert und andererseits erhalten exponentiell ansteigende Tondauern auf dem Notenblatt logarithmisch wachsende Abstände (vgl. Abschnitt 5.3). In Anlehnung an den Textdruck wird auch beim Notensatz die Zeitachse durch die horizontale Komponente dargestellt. Gleichzeitigkeit muß der Notensetzer da-mit zwangsläufig vertikal notieren, doch dieser Forderung kann nicht konsequent nachgegangen werden. Einstimmige Notensysteme bereiten diesbezüglich keine nen-nenswerten Schwierigkeiten, sobald dort aber mindestens eine Stimmen hinzutritt, muß die eindeutige Trennung der beiden geometrischen Dimensionen durchbrochen werden. Bekannterweise nutzt unsere Notenschrift Linien und Zwischenräume zur Darstellung der Tonhöhe, so daß die vertikalen Koordinaten in halbe Linienabstän-de gerastert sind. Die Zeichen, welche die Tonhöhe markieren, also die Notenköpfe, nehmen aber die volle Höhe des Linienabstandes ein und demzufolge führen Se-kundabstände bei identischer horizontaler Position zwangsläufig zur Kollision der Notenköpfe. Um dies zu vermeiden, wird eine der betroffenen Noten horizontal, und damit auf der Zeitachse, verschoben. Dadurch entsteht ein Unterbereich der waagerechten Komponente: Kleine Verschiebungen, die noch die Zugehörigkeit zu einer Notengruppe erkennen lassen, wirken sich nicht auf die Einsatzzeit der be-troffenen Note aus, größere hingegen schon. Doch wie groß dürfen diese »kleinen Verschiebungen« werden? Bei nicht-reinen Primen kann der erforderliche Verschie-bewert durch die zusätzlichen Versetzungszeichen in Größenordnungen der regulä-ren Notenabstände geraten und die deutliche Trennung zwischen Gleichzeitigkeit und zeitlichem Nacheinander aufweichen. Zwar treten diese Situationen in konven-tionellenWerken selten auf, doch offenbart sich in solchen Extremfällen eine weitere Grenze unserer Musiknotation. Mit der linearen Tonhöhenwahrnehmung wurde schon auf ein physiologisches Phänomen eingegangen, das Einfluß auf die Art seiner notenschriftlichen Repräsen-tation genommen hat. Damit eng in Verbindung steht die ebenso durch die Wahr-nehmung beeinflußte Leittonwirkung bestimmter Töne eines Akkordes sowie deren Notation. Seit Einführung der gleichstufig temperierten Stimmung ist es eigentlich unnötig, zwischen enharmonisch verwechselten Noten zu unterscheiden, denn gis sowie as bezeichnen rein rechnerisch dieselbe Frequenz und klingen deshalb völ-lig gleich. Bei Tasteninstrumenten wird dies unmittelbar durch eine gemeinsame Taste zum Ausdruck gebracht. Dennoch scheint ein gis als Durterz eines Domi-nantseptakkordes etwas höher zu klingen als ein as in Form der kleinen Septime. Bei Streichinstrumenten mag dies sogar noch eine physikalische Begründung ha-ben, da Streicher durch minimales Erhöhen bzw. Erniedrigen die Leittonwirkung des betroffenen Tons unterstützen, bei Tasteninstrumenten bleiben dafür allerdings nur physiologische Erklärungen, welche die Wahl der zu notierenden Noten beein-flußt. Theoretisch ist es denkbar, die Notenschrift auf nur ein Alterationszeichen, etwa das Kreuz () zu beschränken, doch würde als unmittelbare Konsequenz die