16 Notenschrift und Notendruck gültige Theorie über den Aufbau von Dur- und Mollakkorden zusammenbrechen. Die Überlagerung von kleiner Terz und reiner Quinte über dem Ton e ergäbe zwar mit der Terz gis einen notierbaren Ton, zur Darstellung eines f-Moll-Dreiklangs müßte allerdings statt as ebenfalls gis geschrieben werden. An die Stelle der klei-nen Terz wäre aber nun eine übermäßige Sekunde getreten, so daß der f-Moll- Dreiklang demzufolge nicht in der üblichen Form dargestellt werden könnte und die Wahl statt dessen auf eis-Moll als klanglich äquivalente Tonart fallen müßte. Die Moll-Subdominante des darstellbaren c-Dur würde somit zu eis-Moll, mit ent-sprechenden Auswirkungen auf die Funktionstheorie. Der Gedankengang ließe sich in diesem Sinne noch weiter fortspinnen und schließlich eine komplette Überarbei-tung der bisher gültigen Harmonielehre erfordern. Daß ein solches Vorgehen nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, kann regelmäßig beim Begutachten der Partitur-darstellung eines üblichen MIDI-Sequenzers beobachtet werden. Da MIDI-Daten in ihrer Standardform keine Informationen über enharmonische Zusammenhänge beinhalten, müssen Analysen der vorliegenden Tasteninformationen herangezogen werden, um eine sinnvolle Notendarstellung zu erhalten. Letztlich bleiben diese aber aber Spekulation und haben oft mit dem gewünschten Resultat wenig gemein. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die Notenschrift zum einen aus dem hö-renden Musikerleben entstand und zum anderen für das praktische Musizieren opti-miert worden ist. Physikalische Parameter bleiben nahezu unberücksichtigt, da vom Musiker ohnehin nur marginal beeinflußbar sind und deshalb eine untergeordnete Rolle spielen. Ebenso gibt es vereinzelte Notationsgrenzen bezüglich Aufbau und Eindeutigkeit der Notenschrift, wie am Beispiel der doppeldeutigen waagerechten Notationsachse dargelegt. Bei all diesen Betrachtungen ist jedoch zu berücksichti-gen, daß die Notenschrift eine kontinuierliche Evolution durchlaufen ist und immer wieder an neue Bedürfnisse angepaßt wurde. Demzufolge bleiben gewisse Inkon-sistenzen nicht aus, denn »historisch ausgebildete Zeichensysteme – wie alles, das sich in Geschichte bildet und verwandelt – können nicht lückenlose Systeme ohne jeden inneren Widerspruch sein.«13 Damit eignet sich die traditionelle Notation aber nicht als universeller eineindeutiger Code zur Konservierung von Klängen. Es wird immer Wissen über Syntax und Semantik der Notenschrift vorausgesetzt, ohne das die Reproduktion der Musik nicht gelingen dürfte. Für eine fremde Zivili-sation, die weder mit unserer Notation noch mit unserer Musik vertraut ist, gleicht die Notenschrift den Hieroglyphen. Auch ihnen konnte ohne Referenzmuster keine Bedeutung entnommen werden. Erst der berühmte Stein von Rosette, der Parallel-texte in drei alten Schriften enthält, ermöglichte Jean François Champollion 1821 nach Vorarbeiten von Thomas Young durch Vergleiche mit bekannten Schriftzei-chen deren endgültige Entschlüsselung.14 So könnte man nun die Frage stellen, ob es einen solchen »Stein« auch für die Notenschrift gibt und wäre dann die Antwort: »Ja, das sind die Multimedia-CDs, die Kompositionen abspielen und gleichzeitig mit einer wandernden Markierung das Notenbild verfolgen«? 13 Ligeti (1965), S. 43. 14 Vgl. Hofstadter (1993), S. 178 sowie Singh (2000), S. 247–265.