1.2 Überblick über die historische Entwicklung des Notendrucks 19 auschließlich im Bezug auf Choralnoten, so daß zum Druck mensuriert notierter Figuralmusik nach wie vor auf den Holzschnitt zurückgegriffen werden mußte. Im Laufe der Jahre steigerte sich die Komplexität der kontrapunktischen Kunstgesän-ge jedoch zusehends und die Xylographie stieß aufgrund des hohen Arbeitsaufwan-des und der geringen Korrekturmöglichkeiten zwangsläufig immer häufiger an ihre Grenzen. Letztlich blieben den Komponisten einzig die Abschreiber als Anlaufstelle zur Vervielfältigung ihrer Werke.18 Vor diesem Hintergrund entwickelte der Italiener Ottaviano dei Petrucci da Fos-sombrone (1466–1539) gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts eine Variante des Gutenbergschen Metalltypendrucks zur Produktion gedruckter Figuralmusik. Sein Verfahren bestand in einem Mehrfachdruck, bei dem zuerst die Notenzeichen, da-nach die Notenlinien und anschließend die Textelemente auf das Papier gedruckt wurden.19 Die dabei erlangte Präzision der Überlagerung wird, besonders im Bezug auf den 1501 in Venedig publizierten Sammelband Harmonice Musices Odhecaton, bestehend aus 96 mehrstimmigen Gesängen, in der Literatur übereinstimmend als vollkommen bezeichnet und scheint in der Folgezeit mit vergleichbaren Techniken nicht wieder erreicht worden zu sein.20 Seine Resultate unterschieden sich von de-nen der Holzschnitte durch deutlich schärfere Konturen und zarte, gleichmäßige rote Notenlinien. Bereits die ersten Druckergebnisse überzeugte die Signoria der Repu-blik Venedig derart, daß sie dem Gesuch Petruccis, ein zwanzigjähriges alleiniges Anrecht auf Druck und Vertrieb von Noten, einschließlich Orgel- und Lautentabu-laturen zu erhalten, entsprach.21 Bei seinem Vorhaben kam ihm die übliche Praxis der Komponisten entgegen, polyphone Werke lediglich in Einzelstimmen zu ver-öffentlichen und die Partituren als Geheimnisse ihrer Kunst zurückzuhalten. Die Umsetzung eines Partiturdrucks wäre deutlich aufwendiger ausgefallen und hät-te Petruccis Erfolg wahrscheinlich um Jahre verzögert, wenn nicht gar unmöglich gemacht. Die allmählich ansteigende Nachfrage nach gedruckten Noten erforderte zuneh-mend zeiteinsparende Maßnahmen auf Seiten der Druckereien. Die eleganten Resul-tate der ersten Petrucci-Veröffentlichungen auf Grundlage des mehrfachen Typen-drucks konnten unter dem herrschenden Zeitdruck nicht mehr garantiert werden und so büßten selbst die Druckerzeugnisse Petruccis zugunsten billiger kommerzi-eller Ausgaben immer mehr an Qualität ein. Eine Folge dieser Bestrebungen war auch die 1524 von dem Franzosen Pierre Attaingnant (1494–1551) vorgenommene Vereinigung von Notenzeichen und den umgebenden Linienabschnitten auf einer Type. Der Eindruck durchgezogener Notenlinien entstand bei dieser Variante al-so allein durch die sequentielle Anordnung der Typen. Die Nahtstellen zwischen zwei Notenzeichen wurde jedoch durch Unregelmäßigkeiten und partielle Unter-brechungen in der Linienführung sichtbar, die Petrucci unter Verwendung seiner 17 Schaal (1949ff). 18 Vgl. Chrysander (1879), Sp. 181. 19 Vgl. Poole (1990), S. 20. Zur Reihenfolge der einzelnen Druckdurchgänge ist anzumerken, daß sie in der Literatur nicht eindeutig beschrieben wird. Während Sartori abweichend von Poole die drei Arbeitsschritte Linien → Noten → Text erwähnt (Sartori (1949ff), S. 1139), findet sich bei Hübel die Sequenz Linien → Text → Noten (Hübel (1995), S. 11). 20 Vgl. Sartori (1949ff), Sp. 1139. 21 Vgl. ebd. sowie Hader (1948), S. 17.