26 Notenschrift und Notendruck OCH2CH2OCH3 OH 1 + x2 r NH–SO2 π 2 r2 − x2 dx = r · 0 NO2 CH3 OC16H33 Abbildung 1.4: Neben der Notenschrift greifen z.B. auch chemische und mathematische Formeln auf die Zweidimensionalität in Verbindung mit graphischen Elementen zurück. Nun sind Musiker nicht die einzigen Fachleute, die sich einer speziellen zwei-dimensionalen Schrift zum Aufschreiben ihres im Blickpunkt stehenden Materi-als bedienen. Gerade im Bereich der Naturwissenschaften findet man oft ähnlich komplex aussehende Notationen, etwa bei mathematischen oder chemischen For-meln (Abb. 1.4), doch ihre Einbindung in gedruckte Dokumente war im Gegensatz zur Notenherstellung sowohl auf mechanischem als auch auf digitalem Wege eine vergleichsweise geringe Herausforderung. Der Grund dafür liegt in der deutlichen Abgrenzung der einzelnen Zeichen voneinander.Weder textuelle noch bildhafte An-teile der Formeln ragen in die polygonale Umgebung eines benachbarten Zeichens hinein. Für den Typendruck ist genau dies das entscheidende Argument, die For-meln leicht herstellen zu können, denn wenn sich die Symbolumgebungen auf dem Papier nicht überlappen, können die Lettern mit den fixen Zeichen ohne Proble-me nebeneinander im Druckstock angeordnet werden. Diese Tatsache gestattete es, verhältnismäßig früh ausgereifte computerbasierte Textsatzsysteme zu entwickeln, die neben reinem Text auch umfangreichen Formelsatz unterstützen. Zu den be-kanntesten dieser Programme, mit dem auch diese Arbeit verfaßt wurde, gehört das von Donald Knuth in den 80er Jahren an der Stanford University entwickelte Satzsystem TEX35 (sprich: »tech«). Trotz seines fortgeschrittenen Alters erfreut es sich nach wie vor großer Beliebtheit, denn die Qualität der Druckergebnisse wird von keiner kommerziellen Textverarbeitung erreicht. Bei der Konzeption von TEX übernahm Knuth das Prinzip der symbolumgebenden Boxen36, die zwar vollstän-dig ineinander verschachtelt sein können, sich aber normalerweise nicht partiell überlappen. Bei der Notenschrift liegt die Sache völlig anders. Sie ist ohne Überschneidun-gen ihrer textuellen und graphischen Anteile in der uns bekannten Form nicht vorstellbar. Man denke dabei etwa an Notenköpfe, die auf System- oder Hilfslinien liegen, an Balken, die Notenhälse einer anderen Stimme schneiden oder an inein-andergeschobene Akkordtrauben. Zudem unterliegt die Symbolkombination festen Regeln und ist somit keinesfalls willkürlich. Im Gegenteil: Ein automatisch arbei-tendes System muß ständig darauf bedacht sein, ungewollte Kollisionen zwischen Notenzeichen zu vermeiden – eine Erwartung, die heute kein Notensatzprogramm hundertprozentig erfüllt. Ein ganz besonderes Problem reiht sich in die Liste der Schwierigkeiten ein, wenn man berücksichtigt, daß die Notenschrift nicht nur von 35 Die verschränkten Buchstaben des Logos TEX sollen die griechische Zeichenfolge τχ (tau-epsilon- chi) in Großbuchstaben darstellen. 36 Näheres dazu findet der interessierte Leser in Knuth (1986), S. 63–67.