1.3 Der computergestützte Notensatz 27 den syntaktischen Vorgaben, sondern zusätzlich von der darin liegenden Seman-tik beeinflußt wird. Je nachdem wie ein Komponist z.B. einen Rhythmus oder eine thematische Notenfolge aufgefaßt wissen möchte, fällt ihre Notation unterschiedlich aus. Die Antwort auf die Frage, ob ein solches Programm die Arbeit eines Noten-setzers prinzipiell übernehmen kann, muß aus dieser Sicht unter Einbeziehung des heutigen Technikstandes negativ beantwortet werden. »Ein Computerprogramm kann praktisch jede mögliche Kombination von Regeln ausführen, wird jedoch nie die gestalterische und künstlerische Sensibilität und Intuition eines Notensetzers erreichen.«37 Diese aus informatischer Sicht ernüchternde Prognose grenzt unse-re Musiknotation deutlich von anderen Schriftformen ab und hebt noch einmal eindrücklich die darin liegende ästhetische Komponente hervor. Wenn in den kom-menden Jahren fortschrittlichere Verfahren z.B. im Bereich der Künstlichen Intelli-genz, die sich für den Notensatz nutzen lassen, entwickelt werden, ist diese Prognose vielleicht zu relativieren, doch zur Zeit erweist sich eine umfassende algorithmische Modellierung der Fähigkeiten eines Notenstechermeisters als unmöglich. Aus diesen Erkenntnissen heraus wäre es müßig, den Versuch zu unternehmen, im Rahmen ei-nes Notengenerators für interaktive Anwendungen das bisher Unmögliche möglich werden zu lassen und ihm qualitativ sowie ästhetisch hochwertige Notengraphi-ken entlocken zu wollen. Der Notationsumfang ist aber glücklicherweise gerade im Zusammenhang mit Lernprogrammen deutlich eingeschränkt, so daß in diesem spe-ziellen Bereich ein Maximum an Automation realisiert und somit ein Großteil der potentiell darzustellenden Notenbeispiele automatisch erzeugt werden kann. Im Gegensatz zum Notenstecher ist ein Computer nicht nur unfähig, Aussa-gen zu ästhetischen Fragestellungen zu treffen, ihm fehlt es darüber hinaus auch an dem, was wir »gesunden Menschenverstand« nennen. Über viele Kleinigkeiten denkt der Handwerker beim Herstellen einer Druckvorlage überhaupt nicht nach; es ist »völlig klar«, daß verschiedene textuelle bzw. graphische Elemente auf eine bestimmte Weise darzustellen sind, denn alles andere wäre absurd. Diese intuitiv logischen Zusammenhänge, über die selten bewußt nachgedacht wird, bereiten im Rahmen der Modellierung häufig zusätzliche Schwierigkeiten. Latent in der Stich-praxis vorhandene Gesetzmäßigkeiten müssen erst als solche erkannt und explizit formuliert werden, um sie bei der algorithmischen Umsetzung berücksichtigen zu können. Eng mit diesem Phänomen verbunden ist die visuelle Orientierung der No-tenstecher. Mit einem Blick auf die Druckvorlage erkennen sie nahezu sofort, wo beispielsweise ein korrekt plaziertes Versetzungszeichen einzustempeln ist. Auch bei den ohne Hilfsmittel gestochenen Bögen geben allein die schon aufgebrachten Zeichen den Verlauf vor, so daß der Notenstecher sich hier ebenfalls visuell daran orientieren muß. Daß Computer außerstande sind, genau dies zu leisten, erschwert die Automatisierung zusätzlich. Aus diesem Grund verlangen viele Notationssyste-me – etwa im Falle von Binde- und Phrasierungsbögen – vom Anwender vollstän-dige Formatierungsangaben. Eng damit im Zusammenhang steht das Phänomen der Geheimhaltung. Viele Stechereien behielten schon während der Blütezeit des Notenstichs ihr Wissen über Regeln und bewährte Berechnungen der genauen Pa-rameterwerte für sich, so daß es nicht systematisch aufbereitet und in der Literatur nachgeschlagen werden konnte. Gleichzeitig waren und sind selbst erfahrene No- 37 Müller (1989), S. 9.