4 Die Realisation taktart-konformer Rhythmusnotationen 4.1 Die relative Gewichtung musikalischer Einsatzzeiten 4.1.1 Die Organisation des Metrums »Wie das Wesen des Harmonisch-Melodischen die Veränderung der Tonhöhe ist, so ist das Wesen des Metrisch-Rhythmischen die Veränderung der lebendigen Kraft, einerseits der Tonstärke (Dynamik), andererseits der Geschwindigkeit der Tonfolge (Agogik, Tempo).«1 Diese Worte Hugo Riemanns heben eindrücklich die besondere Stellung der rhythmischen Komponente in der Musik hervor. Während der vertikal geprägte Anteil sich aus seiner Sicht lediglich durch »die Veränderung der Ton-höhe « auszeichnet, wohnt der horizontalen eine »lebendige Kraft« inne, die über die schlichte Veränderung musikalischer Einsatzzeitdifferenzen hinausgeht. Diese Lebendigkeit entsteht nicht zuletzt durch die vielen kleinen Unregelmäßigkeiten bezüglich Artikulation, Dynamik und Tempo, die ein Musiker beim Spielen seines Instruments zwangsläufig produziert. Exakt quantisierte Musik, wie sie etwa mit einem Sequenzer erzeugt werden kann, klingt mechanisch und im Vergleich zum handgespielten Original wenig befriedigend. Neben den unbewußt produzierten Parameterschwankungen stellen aber ge-rade die bewußt eingesetzten Veränderungen einen wichtigen musikalischen Frei-heitsgrad des Interpreten dar. Während das Tonhöhenraster relativ zu einer Refe-renzfrequenz nahezu statisch vorgegeben ist – optisch gestützt durch Noten- und Hilfslinien –, sind musikalische Einsatzzeit, Tondauer und Tonstärke dehnbare Be-griffe, obwohl die Notenschrift es anders nahelegt: Dort finden sich überwiegend auf Zweierpotenzen sowie deren Summen basierende Notenwerte, die jeweils zu Takten bestimmter Art gebündelt werden und folglich ein linear zur physikalischen Zeit ver-laufendes Raster suggerieren (Abb. 4.1 links). Aufgrund der bewußten sowie unbe-wußten Tempo- und Tondauerschwankungen ist dies aber nicht der Fall, denn durch ihren Einfluß wird die Synchronität zwischen musikalischer und physikalischer Zeit durchbrochen. Aus Sicht des Musikers spiegelt sich dies z.B. bei einem ritardando in der Verlangsamung des Taktschlags wider: Die Abstände der Rasterpunkte, wel-che die musikalischen Einsatzzeiten bezeichnen, werden größer (Abb. 4.1 rechts). Dieses Phänomen nimmt der heutige Hörer in der Regel als selbstverständlich hin, da die Notenschrift kein universeller Code ist, welcher exakt in Musik umzusetzen wäre, sondern dem Musiker im Gegenteil gezielt Freiräume läßt. Deshalb werden 1 Riemann (1884), S. 10