94 Die Realisation taktart-konformer Rhythmusnotationen Tonh¨ohe Tonh¨ohe physikalische Einsatzzeit physikalische Einsatzzeit Abbildung 4.1: Die vom Notenbild suggerierte Proportionalität zwischen musikali-scher und physikalischer Einsatzzeit (links) wird z.B. von einem ritardando durchbro-chen (rechts). Anweisungen, die das Verhältnis zwischen physikalischer und musikalischer Zeit re-geln, auch nicht mathematisch exakt, sondern durch interpretierbare paratextuelle Angaben festgehalten. Die besondere Leistung unserer Wahrnehmung ist es nun, daß sie trotz der au-ditiven Verschmelzung der musikalischen Zeitparameter in der Lage ist, Notenwer-te und leichte Temposchwankungen zu separieren. Sie werden damit offensichtlich als unterschiedliche Dimensionen und nicht, wie Abbildung 4.1 vermuten läßt, als untrennbares Konglomerat behandelt. Aus dieser Sicht stellt sich das Tonhöhen- Zeit-Gitter etwas anders dar. Da eine Folge von Viertelnoten trotz stetiger Tem-pofluktuationen als solche erkannt wird, bleibt das äquidistante Einsatzzeitraster der Notenschrift erhalten. Die veränderten Zeitspannen zwischen diesen Einsatz-zeiten schlagen sich als Krümmungen des Gitters längs der Tonhöhenachse in eine zusätzliche Dimension nieder (Abb. 4.2). Bei einem ritardando wird das Gitter beispielsweise mit fortschreitender Verlangsamung zwischen den Einsatzzeiten zu-nehmend nach unten gezogen. Die Intensität mit der dies geschieht, ist somit ein Maß für den Laufunterschied zwischen musikalischer und physikalischer Zeit. Damit das Gehirn in die Lage versetzt wird, Temposchwankungen als solche zu erkennen und von den Notenwerten zu trennen, benötigt es zeitliche Referenzinter-valle, mit dem es die erklingende Musik vergleichen kann. Diese Aufgabe übernimmt das Metrum, dessen kontinuierlicher Puls »sich wie das Ticken einer Uhr über das rhythmische Muster legt.«2 Im Gegensatz zum Tonhöhenraster, welches sich bei vielen Instrumenten in mechanischer Form von Stegen, Tasten oder Klappen wie-derfinden läßt, ist die Orientierung am metrischen Pulsraster eine rein kognitive Leistung. Ohne das »innere Metronom«, also die Extraktion eines kontinuierlichen Pulses aus der Musik, dürfte jedem Hörer die rhythmische Struktur einer Kompo-sition und damit ihr innerer Aufbau verborgen bleiben, »denn der größte Teil der Musik funktioniert anders als Techno, wo jeder Schlag deutlich mit der Bass-Drum in die Magengrube der Zuhörer zielt.«3 Das Metrum wird durch die Notenschrift zwar latent mitgeliefert, findet dort aber keine direkte Entsprechung, »ebensowenig ist es identisch mit der Taktdarstel-lung. (Für einen Hörer sind Taktstriche ohnehin nicht gegenwärtig).«4 In Abhängig- 2 Jourdain (1998), S. 165. 3 Noll (1998), S. 199.