5.2 Horizontale Ausrichtung lokaler Akkordgruppen 133 5.2 Horizontale Ausrichtung lokaler Akkordgruppen Seit dem neunten Jahrhundert stellt die Mehrstimmigkeit einen zentralen Aspekt der abendländischen Musik dar. Ohne sie wäre das Regelwerk der traditionellen Notenschrift, wenn sich diese in der heutigen Form auch aus der Einstimmigkeit heraus entwickelt hätte, deutlich weniger komplex. Viele ihrer Schwierigkeiten er-geben sich erst aus der Tatsache, daß die Gleichzeitigkeit von Tönen auf bestimmte Weise festgehalten und darüber hinaus den Anforderungen der Musikpraxis gerecht werden muß. Bekanntermaßen lösen fast sämtliche musikalischen Notationsformen das Problem der Gleichzeitigkeit im Vergleich zu niedergeschriebener Sprache durch Ausnutzung einer zweiten Dimension. Im konkreten Fall der konventionellen No-tenschrift besitzen alle untereinander stehenden Noten einer Akkolade dieselbe Einsatzzeit und erklingen deshalb gleichzeitig. Die horizontale Achse – so lautet zumindest die grundlegende Idee – bleibt demzufolge der Notation von zeitlichen Zusammenhängen vorbehalten. Solange jedes Notensystem nur aus einstimmigen Melodielinien besteht, läßt sich dieser Forderung problemlos gerecht werden. In der Praxis kann jedoch unmöglich jede neu zu einer Einsatzzeit hinzutretende Note ihr eigenes Notensystem erhalten. Dieses Vorgehen würde nahezu jede Klavierkomposi-tion leicht auf Format und Umfang einer Partitur für Kammerorchester aufblähen; dies dürfte dem ohnehin zeitkritischen Blattspiel nicht sehr entgegenkommen. Der Übersichtlichkeit halber können sich mehrere Notenköpfe deshalb einen Notenhals teilen und einen Akkord bilden. Genau an dieser Stelle beginnen die Schwierigkei-ten. Da nicht nur die Linien eines Notensystems sondern auch deren Zwischenräume gültige Positionen zur Beschreibung unterschiedlicher Tonhöhen darstellen,5 Noten-köpfe aber gleichzeitig die volle Höhe der Distanz zweier Notenlinien beanspruchen, können lediglich Noten im Abstand von mindestens einer Terz direkt untereinander notiert werden. Sekunden oder gar Primen erfordern zur Vermeidung von Kollisio-nen eine Sonderbehandlung: Die betroffenen Notenköpfe werden horizontal ver-schoben. Obwohl diese nun nicht mehr untereinanderstehen, also eigentlich entlang der Zeitachse bewegt wurden, erklingen die durch sie repräsentierten Töne dennoch gleichzeitig. Innerhalb einzelner Akkorde scheint dies keine weiteren Probleme hervorzuru-fen, da die Zusammengehörigkeit der betroffenen Noten durch einen gemeinsamen Notenhals ersichtlich ist. Teilen sich jedoch mehrere Stimmen ein Notensystem, treten die ersten Schwierigkeiten auf. Im Falle einer drohenden Kollision zweier Ak-korde muß einer der betroffenen Akkorde so verschoben werden, daß die zugehörige Einsatzzeit erkennbar bleibt – eine Aufgabe, die besonders in Verbindung mit Ver-setzungszeichen und Wertpunkten nur äußerst schwierig in allgemeingültiger Form beschrieben und gelöst werden kann. Exemplarisch mag dafür John Grøvers Tech-nische Bericht stehen,6 welcher sich auf 160 Seiten ausschließlich mit der korrekten Akkordpositionierung zweistimmiger Notensysteme befaßt, ohne dabei allerdings Versetzungszeichen in die Betrachtungen mit einzubeziehen. Diesen widmet er eine separate achzigseitige Abhandlung, 7 in der ihre Plazierung nicht akkordübergrei- 5 Vgl. auch Abschnitt 1.1. 6 Grøver (1989b).