5.4 Zeilenumbruch und Randausgleich 165 5.4 Zeilenumbruch und Randausgleich 5.4.1 Grundlagen und Anforderungen In den vorangegangenen Kapiteln wurde im Zusammenhang mit unterschiedlichen Aspekten der Notenschrift schon mehrfach das aus lesetechnischer Sicht zeitkriti-sche Moment der konventionellen Musiknotation dargelegt. Auch für die in diesem Abschnitt behandelte Thematik spielt die unmittelbare Umsetzbarkeit von visuel-len Reizen in kontrollierte motorische Reaktionen, wie dem Blattspiel, eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Im Gegensatz zu sprachlichem Text, der von jedem Leser in aller Regel ohne zeitliche Vorgaben auf unterschiedliche Weise gelesen werden kann, unterliegt der Notenschrift ein Metrum, dem der Blattspieler nicht zuletzt mit den Augen folgen muß. Um ihm das Lesen diesbezüglich zu erleichtern, sind ver-schiedene Regeln, wie der vorgeschriebene Blocksatz, bei dem sämtliche Akkoladen dieselbe Länge besitzen und einen einheitlichen linken sowie rechten Rand bilden, in die Notenschrift eingeflossen. Üblicherweise wird zwar auch beim Buchdruck ein Randausgleich vorgenommen, alternativ steht jedoch der Flattersatz mit seinem uneinheitlichen rechten Rand zur Wahl, wie er hauptsächlich beim Gebrauch von Schreibmaschinen und natürlich der Handschrift produziert wird. Darüber hinaus können selbst beim Text-Blocksatz die jeweils letzten Zeilen eines Absatzes kürzer als die übrigen ausfallen, müssen also nicht bis an den rechten Rand heranreichen. Beim Musikdruck gibt es diese abweichenden Zeilenlängen nicht. Bis auf eventuell eine eingerückte erste Akkolade erhalten sämtliche Notenzeilen eines Musikstücks dieselbe Länge.69 Anfang der achtziger Jahre untersuchte ein Forscherteam um den Psychologen Douglas Mewhort die Auswirkungen unterschiedlich formatierter Texte auf die Le-segeschwindigkeit und das Erinnerungsvermögen bezüglich des Textinhalts.70 Ihre Versuche haben ergeben, daß beide Komponenten signifikant von der Beschaffenheit des Satzspiegels beeinflußt werden. Texte mit ausgeglichenen Rändern schnitten in beiden Punkten besser ab, als jene mit unterschiedlich langen Zeilen. Gleichzei-tig erwies sich ein durch variable Buchstabenabstände produzierter Blocksatz als am besten geeignet. Um den Randausgleich herstellen zu können, müssen zu kur-ze Zeilen gestreckt und zu lange gestaucht werden. Dies kann bei Buchtext auf verschiedene Weisen erfolgen: Zum einen besteht die Möglichkeit, wie beim Satzsy-stem TEX die Wortabstände zu variieren und die Buchstabenabstände beizubehal-ten. Zum anderen können aber zusätzlich sämtliche Buchstabenabstände variabel gestaltet werden, mit dem Resultat zeilenweise unterschiedlich stark g e s t r e ckt e r oder gestauchter Wörter. Laut Mewhort wirkt sich die letzte Variante am vorteil-haftesten auf Lesegeschwindigkeit und Textverständnis aus. Er begründet dies mit den sakkadischen Augenbewegungen71 des Menschen: Die gleichmäßigenWort- und Buchstabenzwischenräume erhöhen die Vorhersagbarkeit der Textposition, die von den Augen als nächstes angesprungen werden müssen. Der Randausgleich stellt 69 Vgl. Chlapik (1987), S. 34. 70 Vgl. Campbell et al. (1981). 71 Die Augen bewegen sich nicht gleichmäßig sondern ruckartig, d.h. sie legen, besonders bei langsamer Bewegung, zwischenzeitliche Ruhepausen ein. Die Bewegung zwischen zwei solchen Ruhepunkten wird als Sakkade bezeichnet.