188 Balken und Bögen 6.2 Bögen Die größten Schwierigkeiten beim Anfertigen einer gestochenen Druckvorlage berei-teten immer wieder Bögen aller Art. Besonders beim Überbinden langer Passagen wird so mancher Notenstecherlehrling verzweifelt sein, denn sämtliche Bögen wur-den »ohne jede Hilfsmittel, unbeschadet ihrer Länge und Höhe der Krümmung, fein beginnend, anschwellend bis zur Mitte und wieder abnehmend bis zur Endstelle ge-stochen. [...] Die mit Worten nicht auszudrückende, rein gefühlsmäßige Schätzung der Bogenlängen, geschieht ohne jede vorherige Berechnung oder Zeichnung.«18 Jeder, der einmal eine handgeschriebene Partitur in höherer Qualität angefertigt hat, dürfte mit zu langen, geknickten oder anderweitig »entarteten« Bogenverläu-fen zu kämpfen gehabt haben. Um wieviel schwieriger die korrekte Führung des »Zeichengerätes« unter hohem Druck auf eine Metallplatte bei gleichzeitiger Kon-trolle der variablen Bogendicke wird, kann der Laie nur erahnen. So verwundert es nicht, daß die Grundvoraussetzungen zur Ausübung dieses Berufs »ein scharfes Auge, ruhige Hand, Geduld, Ausdauer und unbedingte Liebe und Hingabe an die Musik«19 waren. Nicht selten dauerte es mehr als zehn Jahre, bis ein Notenstecher sein Handwerk bis ins Detail beherrschte.20 Bereits 1948 beklagte sich Karl Hader über die rückläufige Zahl der am Notenstecherberuf interessierten Jugendlichen,21 so daß wahrscheinlich auch zunehmend weniger hingebungsvolle Gesellen ausgebil-det und in den Stichbetrieb aufgenommen wurden. Das dürfte unter anderem die nach und nach notwendig gewordenen Hilfsmittel zur Bogengestaltung erklären. Zum Stechen kurzer Bögen konnte der Kompaß, ein Zirkel mit kreuzförmig, konisch zulaufender Gravierspitze, verwendet werden. Für längere Bögen lagen schließlich spezielle Schablonen und biegsame Federn bereit.22 Ihre fixen Längen und Formen beschnitten den Handwerker zwar in seiner Kontrolle über den exakten Bogenver-lauf, befreiten ihn aber gleichzeitig von der schwierigen Aufgabe des freien Stichs. Wie auch immer die Bögen in die Platte graviert wurden, sie gehörten früher schon zu den kompliziertesten musikalischen Symbolen und bereiten auch heute noch bei der Automatisierung ihrer Verläufe diverse Schwierigkeiten. Woran liegt das? Aus den oben zitierten Sätzen Karl Haders kann bereits entnommen werden, daß den Bögen etwas »Unfaßbares« innewohnt: Irgendwie erkennt jeder einen eleganten oder unbeholfenen Bogenverlauf, kann seine Charakteristika aber nicht mit Worten ausdrücken. Zu variabel sind offensichtlich seine Erscheinungsformen. Die freien, vom Können der Stecher abhängigen Verläufe sowie die leicht voneinander abwei-chende Hausregeln diverser Verlage, erschweren ihre genauere Analyse zusätzlich. Darüber hinaus können optische Täuschungen die Ergebnisse verzerren. So erkann-te Francisco Sola beispielsweise erst später im Verlauf seiner Untersuchungen die Symmetrie fast aller Bögen: »The reason why rotations of horizontal slurs were discarded at the beginning was that the slurs we took as examples did not look like symmetrical curves. Our perception of their shape was distorted by the staff lines.«23 18 Hader (1948), S. 71–72. 19 Hader (1948), S. 32. 20 Vgl. Müller (1989), S. 8. 21 Vgl. Hader (1948), S. 32, 40. 22 Vgl. Ross (1987), S. 137–143.