2 Max Haas Produktive des ganz anderen Blickwinkels erleben, wenn Gewohntes durch die an-dere Beleuchtung einen neuen Reiz entfaltet. Dass die Probleme, wie im Titel mei-nes Referates angekündigt, aktuell sind, werde ich nicht eigens begründen. Das Mit-telalter scheint der Vergangenheit anzugehören und gerade darum ist es eine sehr aktuelle Frage, wie weit von solcher Forschung aus überhaupt gegenwärtige Inter-essen angesprochen werden können. Last but not least habe ich zu hoffen, dass Hart-muth Kinzler meine Darlegungen mit gutem Humor ertragen wird. Denn ich werde ungeniert aus seinen Texten Symptome ableiten und unverschämt genug sein, diese als Frucht von seinen Intentionen darzustellen, obwohl er sich gerade dazu nie ge-äußert hat.Lassen Sie mich mit einem scheinbar ganz akademischen Problem beginnen, nämlich der Theorie der sensus disciplinales. Man benennt so die Sinneswerkzeuge, die für das Lehren wie für das Lernen am ehesten dienlich sind. In einer seit Aristo-teles festmachbaren Tradition gilt, dass der Gesichtssinn, das Sehen, immer den Vor-rang vor dem Hören hat. Der Grund für diese Vorrangstellung ist sofort einsichtbar. Beim Hören diktiert mir der Sender, die Person, die etwas zu Gehör bringt, das Tempo, in dem ich verstehen muss, während ich beim Lesen Sender und Empfänger zugleich bin und mir deshalb das Tempo selber diktiert.Seit der Einrichtung einer obligatorischen Schulbildung haben wir es mit dem Problem der sensus disciplinales zu tun. Wir arbeiten zugunsten des Gesichtssinns, da wir das Lesen und Schreiben erlernen. Dabei haben wir auch auditive Übungs-einheiten, wenn wir Diktate schreiben. Das ist allerdings der Spezialfall gegenüber dem weit allgemeinen Fall des alltäglichen Kommunizierens, in dem wir einander dauernd hören, Gehörtes interpretieren, uns irren und uns daher, ebenfalls dau-ernd, korrigieren. Es ist aber offensichtlich, dass im Rahmen dessen, was man dann platterdings das Leben als Schulung oder als Übung nennt, gerade bei uns Akade-mikern das Sehen im Vordergrund steht. Das hat zu tun mit dem Übergang von ei-ner Gesprächs- zu einer Schriftkultur, zu einer Kultur also, von der Thomas Luck-mann einmal scharfsinnig sagte, man schreibe in ihr nicht mehr so, wie man rede, sondern man rede so, wie man schreibe.2 Dass einer druckreif spricht, gehört ins Plansoll solcher kulturell eingeforderter Leistungen.Was wir nun Musik nennen, gehört zu den Produktionen auditiver Ereignisse. Dabei lässt sich zunächst eine merkwürdige Asymmetrie feststellen. Wer recht re-gelmäßig die Schule samt Fremdsprachenunterricht besucht hat, sollte in der Lage sein, ein literarisches Werk aufzudröseln, sich also etwa mit dem » Zauberberg « von Thomas Mann oder mit dem » Mann ohne Eigenschaften « von Robert Musil beschäf-tigen zu können. Ich lasse hier die Erinnerung an die lauten Klagen der Universi-tätsprofessoren über die leseunfähigen Studierenden einfach darum beiseite, weil ich in den mehr als vierzig Jahren an Universitäten immer Studierende getroffen ha-2 Thomas Luckmann: Zum hermeneutischen Problem der Handlungswissenschaften, in: Text und Ap-plikation: Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch, hrsg. von Manfred Fuhrmann, Hans Robert Jauss und Wolfhart Pannenberg (= Poetik und Hermeneutik 9), München 1981, S. 513–523.