Präludium 3 ben, die gerne und sogar gerne viel lesen. Mein Hinweis hatte nur zum Ziel, zu ver -deutlichen, dass mit unserer Schulbildung Literarisches auf hohem Niveau ange-gangen werden kann. Wer allerdings die sogenannten Großen Kompositionen hört, wird die auditiven Ereignisse schwerlich einordnen und dazu eine Partitur zu Hilfe nehmen können. Ich denke hier nicht an Schüler, die sich durch private Initiative oder Leistungskurse erhöhte Kompetenzen verschafft haben, sondern an meine ei-gene Lebenswelt mit durchaus gebildeten Menschen zwischen 7 und 95 Jahren, für die eine Partitur ein Rätsel und das Hören ein Wunder ist, über das nicht gespro-chen werden sollte, um das Wunder nicht zu zerstören.Musikalische Analyse, das zentrale Gebiet von Hartmuth Kinzler, gehört in diese Wunderwelt. Sie kann ausgehen vom Gehörten, aber auch von den Noten und sie kann als Mixtur von Gefühlserleben, rationalem Einspruch oder intuitiver Gewiss-heit ablaufen. In jedem Falle ist sie immer eine Schulung des Bereichs, der in der heutigen hierarchischen Gewichtung gesellschaftlicher Aspekte im Hintergrund ab-läuft. Politiker und Literaturwissenschaftler analysieren Reden, Biochemiker analy-sieren molekulare Strukturen, Psychoanalytiker analysieren Seelenteile, deren Re-präsentanz Neurobiologen analysieren. Wer aber analysiert den Verlauf der Sym-bolketten, die wir Musik nennen?Ich habe nicht eine Sekunde im Sinn, in meinem kurzen Referat sogenannte ge-sellschaftliche Missstände anzuklagen und musikalische Analyse als Pflichtfach für jedermann vorzuschlagen. Als Historiker möchte ich einfach festhalten, dass wir seit recht kurzer Zeit in der merkwürdigen Situation sind, dank medialer Aufbereitung dauernd auditiven Ereignissen ausgesetzt zu sein, von denen die meisten von uns nicht sagen können, woraus sie bestehen. Was Hartmuth Kinzler und mit ihm un-zählige Kolleginnen und Kollegen betreiben ist die Pflege des planmäßig Verküm-merten. Es bedarf eines guten Humors, um diese Arbeit zu leisten, deren Ertrag nicht mehr darin besteht, den berühmten Tropfen auf den heißen Stein zu gießen, sondern zunächst die festen Schuhe anzuziehen, damit man auf den langen Wegen der Suche nach diesem Tropfen keine Blasen erläuft.Wie gesagt: das sind Sichtweisen eines Historikers. Es ist nun einfach zu sagen, dass der angemessene Umgang mit dem Gehör immer ein aktuelles Thema ist, zu-mal Ohrenärzte feststellen, dass gelegentlich junge Leute durch unangemessenen Gebrauch von Geräten ihr Gehör bereits vor dem 20. Lebensjahr unwiderruflich zer-stören. Für mich als Historiker ist es daher eben auch aktuell zu fragen, wann und warum in der Geschichte dem Gehör vorrangige Bedeutung zukam. Lassen Sie mich versuchen, der Frage nachzugehen.Die mittelalterlichen Zeugnisse, mit denen ich mich beschäftige, stammen aus den drei großen Schriftreligionen, also aus dem Judentum, dem Christentum und dem Islam. Ihnen ist jedenfalls im Falle von Judentum und Islam bis heute eine star-ke Betonung der Wichtigkeit des Hörens gemeinsam. Dafür zentral ist die Idee der Tradition, aufgefasst als Schaffung von Bindegliedern zwischen Menschen, die an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten leben. Tradition mag auch als eine idealistische Forderung besprochen werden. In diesem Zusammenhang