4 Max Haas aber geht es um das Schaffen von Tradition, und das heißt: um das Schaffen der In-frastruktur, die Tradition erlaubt. Tradenten heranzubilden heißt dann, Menschen so zu schulen, dass sie hörend Material aufnehmen, das sie sinngemäß richtig wie-der abgeben können. Wer mit dem Judentum zu tun hat, wird talmudische Debat-ten erleben mit einer eigenartigen Pointe. Immer dann, wenn man in der Diskussion aus der Tora zitiert und der Sprecher seinem Gedächtnis nicht ganz traut, wird er im Text nachschlagen. Diese Kombination von Mündlichkeit und Schriftbezug ist ein dauernder Lernprozess. In lateinischen Texten des Mittelalters stoßen wir auf die denkwürdige Verwendung des Verbums legere, lesen. Einen Text zu lesen be-zieht sich nicht notwendigerweise auf einen Text, den man vor Augen hat. Man spricht genauso vom Lesen, wenn man im Gedächtnis einen Text wie einen Film ab-laufen lässt: man liest gleichsam im Gedächtnis.Es ist klar, dass meine Hinweise auf die Errichtung einer internalisierten Biblio-thek zielen, auf eine Konzeption also, die unserer Vertrautheit mit externalisierten Bibliotheken entgegen steht. Unzählige Menschen bilden sich ihre internalisierten und externalisierten Bibliotheken, indem sie Bücher lesen, übrigens auch Filme gu-cken und sie im Gedächtnis speichern. Die dazu analoge Ausbildung in Bezug auf das Hören von Klangorganisationen beliebiger Art ist die musikalische Analyse. Wer sich gewissenhaft mit ihr beschäftigt, muss nicht religiös werden oder einer be-stimmten Tradition anhangen. Man kann mit ihrer Hilfe einfach mehr von der Ge-schichte verstehen, aus der wir herkommen.Mein Festvortrag könnte nun in dieser feierlichen Art weitergehen auf die Ge-fahr hin, dass erst die Zeitgrenze von 30 Minuten, die mir gesetzt ist, uns alle vor der feierlichen Verschwitztheit rettet, die beim Bericht über das Große Unbekannte – man merke: musikalische Analyse ist im Gesamtbereich der Bevölkerung viel-leicht nicht groß, sicher aber unbekannt – eintritt. Erlauben Sie mir, mit einem sehr unangenehmen Thema aufzuwarten, das keiner Verschwitztheit zugänglich ist. Mu-sikalische Analyse leitet an, Musik zu analysieren. Was ist das, Musik? Die Frage ist ein bisschen gemein und ich bin dafür, die Gemeinheit nicht wegzublasen. Also nochmals: was ist Musik? Einige von Ihnen werden sich erinnern, dass in einem der bekanntesten Bücher eines ihrer großen Philosophen, nämlich Jürgen Habermas, ganz zu Beginn der Satz vorkommt: » Dass wir die Reflexion verleugnen ist der Positivismus « .3 Daraus ist un-bedingt herzuleiten, dass immer die anderen Positivisten sind, denn wir selber, wir: wir reflektieren natürlich. Nun ist das eine ungemein idealistische Position, die sich bereits bei erstem Nachdenken als Kandidat für eine Schrumpfkur empfiehlt. Wir machen täglich un-glaublich viele Dinge, die wir nicht reflektieren. Wir sagen dann, es handle sich um Reflexe, um Eingeübtes, um Automatismen etc. Aber es gibt auch eine weitere Sorte des Unreflektierten. Den Zeugnissen nach beginnt Musikgeschichte vor rund 5000 Jahren und bereits in den 3000 Jahren vor Guido von Arezzo sind so viele Dokumen-3 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1968, S. 1.