6 Max Haas Zahlen los ist. Offensichtlich meinen Ausdrücke wie ein Meter oder zwei Meter et-was, das nicht mit dem Tisch zugrunde geht. Was ist das?Wir sind uns einig, dass wir Objekte, zum Beispiel einen Haufen Steine, abzäh-len können. Irgendwie scheint aber dieses mit dem Zählen verbundene Messen an-ders zu funktionieren, wenn wir Temperaturen messen. Von einem abstrakteren Standpunkt aus sprechen wir von Größe und ordnen die Sache mit den Steinen der Kategorie der diskreten Quantität zu, während wir Temperatur entweder als konti-nuierliche Quantität oder als Qualität auffassen. Wissenschaftsgeschichtlich ist es üblich geworden, zwischen intensiver und extensiver Qualität zu unterscheiden, wobei erstere die Sache mit der Temperatur, letztere die Sache mit dem Abzählen meint. Je nach Auffassung sind wir in einem mathematischen oder einem philoso-phischen Grundlagenproblem gelandet. Wird nun im Mittelalter über Ton und Zahl diskutiert, findet man Diskussionen auf allen Ebenen - in der elementaren Unter-weisung für das Zählen wie in der Kategoriendiskussion.In der Musik genannten Reflexionsweise wird nun anhand von Ton und Zahl die Frage nach Qualität und Quantität diskutiert, wobei im 14. Jahrhundert mehr und mehr der spezielle Fall der Quantifizierung von Quantitäten besprochen wird. Für den Fall der Tongestaltung ist zu bereden, wie die aristotelische Zeitdefinition – ich habe sie bereits erwähnt, sie lautet: » Zeit ist das Maß der Bewegung « – umzusetzen ist. In der Theorie der Zeit muss man sich demnach damit beschäftigen, wie solche Zeitmaße zu begründen sind. Wissenschaftshistoriker haben gezeigt, dass im vielschichtigen Prozess, der zur Entstehung einer mathematisch orientierten Physik führt, innerhalb der Musik das erste Mal so etwas wie angewandte Mathematik vorkommt. Ich möchte bei diesem Befund, der weit ausführlicher zu bereden wäre, nicht verweilen. Aufgrund der skizzierten Aspekte dürfte eine Tendenz dieser Musik genannten Reflexionsform deutlich geworden sein. Es geht hier nicht um ein in sich abgekapseltes Fach, das vielleicht unter dem Oberbegriff der Kunst verbucht wird, aber zu einer Welt ge-hört, die uns durch übliche Sozialisationsverfahren nicht eröffnet wird. Musik ist mittendrin im Geschehen, an der Schnittstelle zwischen allen formalen Überlegun-gen und aller prall gefüllten Sinneshaftigkeit, also zwischen Mathematik und Phy-sik in aristotelischer Dimensionierung.Was ich hier zum Mittelalter gesagt habe, war der Versuch, mit meinen Mitteln einen Aspekt hervorzuheben, der, wie ich glaube, Hartmuth Kinzlers wissenschaft-liche Intentionen mit den meinen, vielleicht darf ich auch sagen: mit den unsrigen verbindet. Es gab eine Zeit, da ich befürchtete, der Ausdruck Geisteswissenschaft sei einfach ein Ordnungsausdruck geworden, der es überlasteten Dekanatssekretärin-nen erlaube, irgendwelche Fächer zu ordnen. Mittlerweile hat dieser Ausdruck wie andere auch wieder eine gewisse Respektabilität erlangt. Wir, die an wissenschaft-lichen Prozessen Beteiligten, wollen zeigen, dass wir zwar Inseln bewohnen, aber nach den Stegen, Brücken, Landgängen suchen, die uns mit anderen verbinden. Wenn ich das richtig sehe, hat Hartmuth Kinzler lebenslang nach Möglichkeiten ge-sucht, absolut undogmatisch, vom jeweiligen Fall aus zu signalisieren, dass musika-