Präludium 7 lische Analyse kein Hort der Seligkeit ist, der für Eingeweihte geistige Wellness ver-spricht, sondern einen allen zugänglichen Tummelplatz, auf dem man Ideen aus-probieren kann.Erlauben Sie mir, kurz bei diesem Ausprobieren zu bleiben. Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace hat 2005 vor dem Abschlussjahrgang eines ame-rikanischen Colleges eine Rede gehalten. Wallace thematisiert das, was in der deut-schen Übersetzung » geisteswissenschaftliche Ausbildung « , im amerikanischen Ori-ginal » liberal arts education « heißt. Er hält fest, dass es als Kränkung erscheinen könnte, gesagt zu bekommen, dass man mit einer geisteswissenschaftlichen Ausbil-dung das Denken lerne. Und fährt fort: » Ich möchte hier einmal festhalten, dass das geisteswissenschaftliche Klischee beileibe keine Kränkung ist, denn die wirklich wichtige Ausbildung im Denken, um die es in Institutionen ... geht, betrifft gar nicht die Fähigkeit zu denken, sondern die Entscheidung für das, worüber es sich nach-zudenken lohnt.« 5 Was Hartmuth Kinzler in seinen Aufsätzen versucht hat, ist genau das: anhand musikalischer Analyse herauszuarbeiten, » worüber es sich nachzudenken lohnt « . Erlauben Sie mir, nochmals an Zufallsbefunden aus dem Mittelalter zu erklären, was sich meines Erachtens lohnt. Wenn man die Theorien zu den Tonhöhenorgani-sationen überprüft, kommt man in einer etwas abstrakten Lesart zum Schluss, dass es um zwei Modelle geht. Das eine wird durch eine unendliche zyklische, das ande-re durch eine endliche zyklische Gruppe gebildet. Interessant daran ist, dass die gleiche Struktur auch für die Tonverlaufsorganisationen auszumachen ist. Tonhö-hen und Rhythmen scheinen strukturell analog. Solche Befunde sind für Mathema-tiker und andere Vertreter formaler Wissenschaften nicht überraschend, und um Überraschung geht es hier auch nicht, sondern um das Verbindende. Der Mathema-tiker Andreas Speiser hat vor nahezu hundert Jahren, noch ganz angeregt durch die neu entdeckten Früchte einer strukturell ausgerichteten Mathematik, wie er sie von seiner Lehrerin Emmy Noether bezog, in einem Lehrwerk der mathematischen Gruppentheorie gezeigt, welche Phänomene der Musiktheorie, dann aber auch, welche Phänomene der Ornamentik sich gruppentheoretisch deuten lassen. Anders gesagt: die Sache mit den unendlichen und endlichen zyklischen Gruppen besagt, dass wir mit einem Phänomen befasst sind, das in gewisser Abstraktion auch ganz andere Disziplinen beschäftigt.Mit Wallace zu sagen glaube ich, dass das es ist, » worüber es sich nachzudenken lohnt « . Und zweitens glaube ich, dass genau diese Stoßrichtung zu dem gehört, was Hartmuth Kinzlers Arbeiten ausmacht.» Worüber es sich nachzudenken lohnt « , ist darzustellen. Damit ist wiederum ein ganz eigenes Problem angesprochen. Lassen Sie mich diesen Punkt in seiner Trag-weite wiederum von der Geschichte aus darlegen. Einer der berühmtesten Sänger der arabischen Tradition ist Ma'bad. Von ihm gibt es die Geschichte, da einer ihn fragt: » Wie komponierst Du?« Ma'bad sagt: » Wenn ich ein Lied habe « – er meint, 5 David Foster Wallace: Das hier ist Wasser / This Is Water, aus dem Amerikanischen von Ulrich Blu-menbach, Köln 52012, S. 11.