» Ich höre was, was du nicht siehst …« 13 Es ist angesichts der kompositorischen Umwälzungen, die Schaeffer mit seiner Erfindung der Musique concrète initiierte, keineswegs eine Übertreibung, wenn Bayle pointiert eine » Revolution des Klangs « beschwört, nachdem dieser musika-lischer » Gegenstand beziehungsweise sogar autonomes Material geworden ist « ; also der » Klang, der von Natur aus ephemer ist (er ist das flüchtigste aller Phäno-mene), aber seither in seinem zeitlichen Verlauf detailliert und präzise festgehalten sowie folglich leicht untersucht und manipuliert werden kann « .7 Und zusätzlich be-tont Bayle als ein weiteres entscheidendes Merkmal für den Hörvorgang den beson-deren Unterschied des elektroakustisch eingefangenen, morphologisch bearbeiteten, daraufhin abgespeicherten und schließlich ohne erkennbare Kausalität reproduzier-ten Klanges gegenüber den gewöhnlichen, an die Gesetze von Zeit und Raum ge-bundenen vokalen oder instrumentalen Musizierpraktiken: » Wenn man einen Klang hört, der aus einem Lautsprecher kommt, dann muß man realisieren, daß es nicht ein Klang ›wie alle anderen‹ ist […]: das, was erklingt, ist nicht mehr an seine Ursache gebunden (die verborgen bleiben wird, definitiv woanders im Raum und frü-her in der Zeit), aber an deren eingefangene Form. Es ist durch ein dazwischengeschal-tetes Trägermedium zu einem Klangbild geworden.« 8 Bemerkenswerterweise wird mit dem Neologismus des Klangbildes und dessen näherer Qualifikation als » neue Objekte, beobachtbar und handhabbar, aus einem anderen Raum, aus einer Welt der Repräsentation « ,9 zugleich eine metaphorische Visualisierung vorgenommen – scheinbar paradox zur Theorie der Akusmatik erhält das Unsichtbare einen ästheti-schen Abbildcharakter – mit der semantischen Implikation, dass somit dem Rezi-pienten die Aufgabe übertragen sei, » durch das Hören die aus der Fixierung und Montage resultierende strukturelle Intentionalität « zu enthüllen.10 Umgekehrt erhebt Bayle gegenüber dem Komponisten akusmatischer Musik das Postulat, die » Interaktion « gezielt zu berücksichtigen, der zufolge » das Produk-tionsverhalten selbst […] durch das Hörverhalten beeinflußt wird « , weshalb jener in voller Bewusstheit den pythagoreischen » Vorhang « als » Filter « beziehungsweise – und dies sei » die grundlegende Realität der Akusmatik « – das keineswegs neutrale » Dispositiv « der Lautsprecherwiedergabe explizit als eine » semiotische Technolo-gie « 11 verstehen und dementsprechend mit angemessener Deutlichkeit musikalisch artikulieren müsse, und zwar nicht zuletzt in der gegenwärtigen Situation einer scheinbaren Unbegrenztheit der kompositorischen Manipulationsmöglichkeiten ei-nerseits, aber einer noch mangelnden Erfahrung mit den unter den spezifischen Be-dingungen des Mediums resultierenden neuartigen Phänomenen der autonomen, von ihrem jeweiligen Ursprung losgelösten Klangbilder und den damit verbunde-nen Wahrnehmungsmechanismen andererseits: » Die Freiheit, alle möglichen Objek-te zu produzieren, die Freiheit zu sämtlichen Formveränderungen, sämtlichen Deh-7 Bayle: L'image de son / Klangbilder, S. 3 (s. Anm. 1).8 Ebd., S. 5.9 Ebd., S. 9.10 Ebd., S. 15.11 Ebd., S. 15/17.