» Die Vorstellung … ist der Anknüpfungspunkt für die musikalische Bildung « 21 die Gefühlswelt erregt und durch welche sie die wesentliche Nahrung erhält. In ihr liegt für die musikal ische Erziehung die Mögl ichkeit und Gewißhei t , befruchtend und veredelnd auf den jugendl ichen Geist wirken zu können.Die Vorstel lung eines angeschauten, sowie eines eigenen Er -lebni sses i st der Anknüpfungspunkt für die musikal i sche Bi l -dung des Gefühls, gerade so, wie die Anschauung der Urnerv aller geist igen Bi ldung ist .13 … und musikpädagogische Konsequenzen Theorie: Welche musikpädagogische Theorie leitet Lina Ramann nun daraus ab? Die Forderung zur Ausbildung des Anschauungsvermögens zieht sich wie ein roter Faden durch die musikpädagogische Literatur des 19. Jahrhunderts. Ausgangs-punkt ist die Pädagogik Johann Heinrich Pestalozzis, für den Anschauung zunächst das Empfangen und Aufnehmen von Eindrücken durch die Sinne ist. Über die Sin-neseindrücke hinaus ist Anschauung für ihn die mit der Wahrnehmung verbundene ordnende und konstituierende Tätigkeit des Geistes. Neben der sinnlichen Wahr-nehmung bilden die schaffende Tätigkeit des Geistes sowie die Ausbildung der An-schauungskunst eine Einheit. Durch Hans Georg Nägeli etablierte sich erstmals die Einsicht, dass die Musik das Anschauungsvermögen betätigt – darin liegt für ihn und für spätere Autoren die erzieherische Aufgabe. Während ein musikalisch Unge-bildeter bei einem Musikstück lediglich eine Anhäufung von Tönen wahrnehme, er-fasse der musikalische Gebildete die Musik bewusst, auch in ihrer Komplexität.14 Insofern ist Lina Ramanns Anliegen im Hinblick auf das Anschauungsvermögen kein Novum, sondern zunächst Konsens der Zeit.Das Spezifikum in Ramanns musikalischer Erziehungs- und Unterrichtslehre liegt jedoch in der Akzentuierung des Vorstellungsvermögens, das sie besonders bei Jugendlichen zwischen dem 7. und 8. sowie zwischen dem 14. und 16. Lebensjahr gegeben sieht. Die Musik dient bei ihr nicht nur der Anschauung, sondern vielmehr der Ausbildung des Vorstellungsvermögens in Bezug auf das Angeschaute. Darin liege das Mittel zur Bildung des Gefühls und daher habe » die Vorstellung durch die Anschauung hindurch « zu gehen. Immer wieder rekurriert Ramann dabei konse-quent auf die anthropologisch-psychologischen Bedingungen: Die Elfen- und Zau-bermärchen streifen noch über die kindliche Seele, sie kann noch mit Aschenputtel auf dem Grab der Mutter weinen, aber sich auch von lebendiger Schilderung großer Persönlichkeiten inspirieren lassen. Der Zusammenhang zwischen Vorstellung und Anschauung erfolgt für Ramann in der Weise, dass die Eindrücke des Angeschau-ten, also der Musik, sich zu Vorstellungen verinnerlichen. Das zunehmende Vorstel-13 Ramann: Allgemeine musikalische Erzieh- und Unterrichtslehre, § 43, S. 100 ff (s. Anm. 12).14 Nolte: Die Musik im Verständnis der Musikpädagogik des 19. Jahrhunderts, S. 37ff. und 40ff.(s. Anm. 7).