30 Bernd Enders nius, dem das Schicksal des nur flüchtigen Verweilens unter den Menschen auf die blasse Stirn gedrückt hat « , er spricht von Missverständnissen, wenn die Nachwelt in seinen Werken irrtümlich jene Art von Herzensergießungen erblickt, zu denen sich alle vom Leben auf irgendeine Weise Enttäuschten vornehmlich hingezogen fühlen und er macht sich lustig über die » Generationen junger Mädchen « , die ihrem ›ge-schlechtlosen Idol‹ » freilich zumeist nur eine höchst unzulängliche pianistische Technik in den Dienst ihrer zärtlichen Verehrung zu stellen vermögen.« 5 In jüngerer Zeit wandelt sich das einseitige und etwas stereotyp-klischeehafte Bild eines Salonkomponisten und Pianisten virtuoser Klavierromantik noch deut-licher und die innovativen und fortschrittlichen Ideen in seinen Werken, die origi-näre, wegweisende Sprache und die für damalige Zeiten erstaunliche Modernität Chopins geraten stärker ins Blickfeld musikwissenschaftlicher Betrachtung.6 Der Klavierhistoriker Matthias Kornemann hebt hervor: Die nicht selten eingängigen, melodisch süßen Oberflächen seiner Musik zei-gen ihre wahre Dichte, sobald man sie zu beschreiben versucht. Das übliche Konzertführer-Vokabular perlt daran ab, und die Musikwissenschaft fährt ein analytisches Instrumentarium auf, das eines Bach würdig wäre.7 Nicht der » Klaviervirtuose der eleganten Salons « (Hector Berlioz), sondern der mu-sikalische Erneuerer wird zumindest von der musikwissenschaftlichen Chopin-Forschung mit zunehmendem Interesse betrachtet.So weist Hartmut Kinzler auf das Verschwinden sozialgeschichtlicher Orte hin, wie z. B. » die gute Stube des bürgerlichen Haushalts « , die ursprünglich Chopins Be-deutung für die Salonmusik wesentlich geprägt hat, und nicht länger sei er » wie früher der Komponist der Krankenzimmer und Sanatorien « , vielmehr betont er die Originalität und Ausdrucksstärke der musikalischen Substanz der Chopinschen Musik, » dass sie auch heute noch fast alle Zuhörer zu faszinieren vermag, ganz zu schweigen von jenen, die sich – selbst spielend – an den neuartigen immensen kla-viertechnischen Schwierigkeiten versuchen.« 8 Ein anderes Beispiel für die Bedeu-tung kompositorischer Innovation gibt Michael Lehner, der mit Blick auf die » zu-nehmend wirkungsmächtigere Innovationsästhetik « des 19. Jahrhunderts Chopins individuelle Initial- und Finalgestaltungen untersucht, eine Besonderheit in Cho-pins Schaffen, die bereits Robert Schumann aufgefallen sei, der » in einer Mischung aus Bewunderung und Kritik […]« in seiner Rezension der Sonate in b-Moll op. 35 5 Camille Bourniquel: Chopin, Hamburg 1959 (1977), S. 8 (deutsche Ausgabe).6 Aber nicht nur Musikwissenschaftler, auch ausführende Künstler rühmen die kompositorische Tiefe von Chopins Werken. So äußert sich der italienische Pianist Maurizio Pollini in einem Interview: » Chopin ist ein viel tiefgründigerer Komponist, als man gemeinhin glaubt oder als sein Klischee es nahelegt.« Giovanni di Lorenzo, Claus Spahn: Auch Strenge kann eine Sünde sein, in: Zeit Online 22.02.2009, http://www.zeit.de/2009/09/Pollini-Interview/seite-2 ( (letzter Zugriff am 15.01.2014).7 Matthias Kornemann: Funkelndes Kristall. Frédéric Chopin zum 200. Geburtstag, in: RONDO 2010, H. 1, S. 9.8 Kinzler: Fryderyk Chopin, S. 14–15 (s. Anm. 4).