Chopin reloaded (chpn_ op35_ 4.mid)31 konstatiert habe: ›So fängt nur Chopin an, und so schließt nur er: mit Dissonanzen durch Dissonanzen in Dissonanzen.‹« 9 Rätselhaft, aber … Musik ist das nicht!Insbesondere die 2. Klaviersonate in b-Moll, op. 35, erregte die Musikwelt aufgrund ihrer zahlreichen Eigentümlichkeiten seit den ersten Konzerten. Chopin komponierte das viersätzige Werk (I. Grave. Doppio movimento; II. Scherzo; III. Marche (fu-nèbre): Lento; IV. Finale: Presto) bekanntlich um den schon zwei Jahre früher ent-standenen, weltbekannten Trauermarsch herum. Er vollendete die » Trauermarsch-Sonate « im Jahre 1839, nachdem er mit seiner Patchwork-Familie vom Karthäu-ser-Kloster im mallorquinischen Valldemossa zum Landsitz von George Sand im französischen Nohant umgezogen war. Abgesehen von den pianistischen Anforderungen des in zahllosen Einspielun-gen vorliegenden und zum obligaten Standardrepertoire internationaler Klavier-wettbewerbe gehörenden Werkes 10 und abgesehen von seiner Berühmtheit durch den ›integrierten‹ Trauermarsch, entzünden sich vor allem an den kompositorischen Eigentümlichkeiten allerlei heftige, vielfach sich widersprechende Diskussionen. Die Kriterien für eine Sonate – von Chopin ohnehin nicht als bevorzugte Komposi-tionsform gewählt 11 – scheinen hier nicht wirklich vorzuliegen. Z. B. gibt es keinen Satz in der Durtonart, die Sätze wirken sehr unterschiedlich, ja uneinheitlich in ih-rem Charakter, und insbesondere das kaum mehr als eine Minute dauernde, häufig als » bizarr « , » konfus « , » formlos « oder » melodielos « charakterisierte Finale mit sei-nen permanent durchlaufenden, unisono im Presto zu spielenden Achteltriolen be-reitet bis heute jedem nach musikalischer Orientierung und analytischer Deutung suchenden Wissenschaftler wie Interpreten einiges Kopfzerbrechen.Chopins Zeitgenossen hatten noch größere Schwierigkeiten mit der Fasslichkeit des Werks. Der gewiss nicht rückständig denkende, schon einmal dazu zitierte Ro-bert Schumann, der Chopin immerhin ein Genie nannte und dessen Arbeiten an sich stets bewunderte,12 sprach fassungslos von einer mutwillig zusammengestell-ten » Caprice « und kommt zu der viel zitierten Bemerkung, dass Chopin hier » vier seiner tollsten Kinder vereinigt « habe.13 Dabei ist hier » toll « keineswegs im heu-9 Michael Lehner: So fängt nur Chopin an, … so schließt nur er, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Mu-siktheorie 7/3 (2010), S. 346, mit Quellenangabe: » Schumann, Robert (1914), Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, hrsg. von Martin Kreisig, 2 Bde., Leipzig 1914, Bd. 2, S. 13–15.« 10 Z. B. beim Chopin-Wettbewerb in Warschau, der im Fünfjahreszyklus ausgetragen wird.11 Franz Liszt sagte über Chopin: » Er musste seinem Genie Gewalt anthun, so oft er versuchte, es Re -geln und Anordnungen zu unterwerfen, die nicht die seinigen waren und mit den Anforderungen seines Geistes nicht übereinstimmten. […] Er konnte der engen, starren Form das Schwebende, Unbe-stimmte der Umrisse nicht anpassen, was den Reiz seiner Weise ausmachte.« Franz Liszt: Gesammel-te Schriften, hrsg. von Marie Lipsius, Leipzig 1910, Band 1: Friedrich Chopin, S. 12. 12 Umgekehrt spielte Chopin nie etwas von Schumann. Er verstand die wegweisende Größe der Schu-mannschen Werke nicht.13 Robert Schumann: » […] daß er es ›Sonate‹ nannte, möchte man eher eine Caprice heißen, wenn nicht einen Übermuth, daß er gerade vier seiner tollsten Kinder zusammenkoppelte, sie unter diesem Na -