32 Bernd Enders tigen Sinne von » fantastisch « oder » ausgezeichnet « zu verstehen, vielmehr ist an Begriffe wie » verrückt « , » irre « oder » übergeschnappt « zu denken.Aus der Sicht der Zeitgenossen verletzt Chopin sicherlich tonale und formale Re-geln der damals » gültigen « Sonatenform, aber aus späterer Betrachtung ist zu er-kennen, dass er durchaus einige Gestaltungselemente wie die Abfolge von Exposi-tion und Durchführung oder die Dreiteiligkeit des Scherzos mit liedhaftem Trio bei-behält, aber insgesamt eher eine zyklische Konzeption der Sätze verfolgt und nach dem Prinzip der entwickelnden Variation vorgeht,14 dabei die Sonatenform also weiterführend gestaltet. Seine kompositorischen Spezifika – abgesehen von der an-spruchsvollen Virtuosität des Klavierspiels – werden gerade in den Sonaten (op. 35 und op. 58) weiter ausgearbeitet wie vor allem die originäre, ausdrucksvolle Melo-dik, die chromatisch angereicherte, oft modulierende und enharmonisch wechseln-de Harmonik, die prägnante, pulsierende, ja manchmal sogar hämmernde Rhyth-mik, eine satztechnisch komplexe Mehrstimmigkeit und nicht zuletzt eine deutliche Erweiterung klanglicher und dynamischer Nuancierungen, während sich die an an-derer Stelle gelegentlich etwas überbordende Ornamentik mit Verzierungen und Umspielungen gerade in den Sonaten eher weniger zeigt bzw. stärker in motivisch relevante Ausformulierung überführt wird.15 Nachdem Schumann sich über die vorhergehenden Sätze ausgelassen hat (» stür-misch, leidenschaftlich der 1. Satz, aber auch mit einer schönen Melodie, der 2. Satz ein Scherzo nur dem Namen nach, aber kühn, geistreich, der Trauermarsch noch düsterer « ), hält er mit seiner Ratlosigkeit den Finalsatz betreffend nicht hinter dem Berg: Dieser wirke eher wie eine Verhöhnung, wie ein Spott, » rätselhaft wie eine Sphinx « und dann fällt er – in seinem Inneren zwar irgendwie fasziniert, aber dann doch nicht anders könnend – abschließend das vernichtende und bis heute – vor al-lem in den diversen Schallplattenkommentaren 16 – beständig zitierte Urteil: » Musik ist das nicht!« 17 Von Chopin selbst ist lediglich ein kurzer, auf den ersten Blick eher nichtssagen-der Kommentar zum Finale bekannt: » Die linke Hand unisono mit der rechten Hand plaudern nach dem Marsch.« 18 men vielleicht an Orte einzuschwärzen, wohin sie sonst nicht gedrungen wären.« Ders.: Neue Sona-ten für das Pianoforte, in: Neue Zeitschrift für Musik XIV/10 (1841), S. 39.14 Vgl. u. a. Hugo Leichtentritt: Analyse der Chopin'schen Klavierwerke, Vol. II, Berlin, 1921–1922, S. 210.15 Mehr Details hierzu z. B. bei Maciej Gołąb: Chopins Harmonik – Chromatik in ihrer Beziehung zur Tonalität, Köln 1995.16 Z. B. heißt es im Kommentar zur Einspielung durch Ivo Pogorelich: » Die b-Moll-Sonate mit dem be-kannten Trauermarsch (1837/39) zeigt, wie Chopin selbst heterogene Satztypen facettenhaft zu einem Ganzen formt. Im Unisono-Husarenritt des Finales ging er dabei so weit, daß Schumann urteilte: ›Musik ist das nicht‹.« In: DGG, 415 123-2, 1981.17 Schumann: Neue Sonaten, S. 39 (s. Anm. 13).18 Zit. n. der Übersetzung aus dem Polnischen von Hartmuth Kinzler in ders.: Chopins B-Moll-Sonate: Vier seiner tollsten Kinder – genetisch verwandt? Spekulative Überlegungen zum inneren Zusam-menhang des Werkes sowie weitere analytische Beobachtungen, in: Ad Parnassum 2 (2004), H. 4 (Ok-tober), S. 73–129.