34 Bernd Enders Ohne jede Unterbrechung (bis zum drittletzten Takt) jagen im Presto-Alla-breve die Achteltriolen dahin; kein Akkord unterbricht die Strenge des Uniso-nos; alles ist sotto voce zu spielen; keine Spur von Affekt darf sich durch cre-scendo oder diminuendo bemerkbar machen; nur im letzten Takt bricht ein gellendes Fortissimo los. Es ist das gespenstischste aller Klavierstücke.21 Joachim Kaiser, der die Sonate immerhin zu den » 100 Meisterwerken der Musik « zählt, bezeichnet den letzten Satz als nicht mehr fasslich. Leise Prestotriolen. Über Kategorien wie Trost oder auch Verzweiflung scheint diese fürchterliche Musik hinaus. Fahl, gestaltlos, wahn-sinnig und umtriebig reagiert das Finale auf die Todesbotschaft des Trauer-marsches. Der Satz ist kaum spielbar. Ganz leise bleiben, monoton, gleichsam seelisch tot: wie sollen lebende Interpreten das schaffen?22 Auch in der heutigen Zeit, die immerhin eine im Vergleich zur damalige Epoche ex-trem erweiterte Auffassung von Musik hat – von der Zwölftonmusik über Aleatorik bis hin zum Industrial Techno – bleibt also der letzte Satz immer noch besonders rätselhaft.23 Ein kurzer Satz von etwas mehr als einer Minute Dauer, ein Finalsatz, der ein Werk von immerhin rund 20 Minuten Dauer beschließt (ca. 8 % Prozent), von dem laut einer Angabe des Chopin-Schülers Karol Mikulis auch noch 2 Takte in der Wiederholung des ersten Teils (T. 9–10) gestrichen wurden.24 Hugo Leichtentritt kommentiert: » Das Finale ist eins der sonderbarsten Stücke der ganzen Literatur, ein Unikum. Von Anfang bis Ende ein eintöniges Gemurmel, beide Hände in Oktaven, ohne jeglichen Versuch harmonischer noch melodischer, noch rhythmischer Wirkungen.« 25 Dann kommt wie immer das Schumann-Zitat, eine Deutung des Pianisten Artur Rubinstein und Chopins minimalistische Anmer-kung in einem Brief an seinen engen Freund Jules Fontana im Jahre 1839. Im Gegensatz zu den vielen eingängigen und gefälligen Melodien anderer Kom-positionen Chopins, die nicht selten sogar » Ohrwurm « -Qualitäten aufweisen, gibt es in dem ununterbrochenen Achtellaufwerk offenbar kein abgegrenztes Thema, keine motivische Gliederung, keine rhythmisch-prägnante Formel, keine Phrasen-bildung, keinen eindeutigen harmonischen Hintergrund, keinen formalen Aufbau – zumindest beim ersten unbefangenen Blick in die Noten. Am Ende folgt dann noch ein überraschender, eigentlich unpassender oder wenigstens unerwarteter Schluss-21 Walter Georgii: Klaviermusik, Berlin/Zürich 1941, S. 309.22 Joachim Kaiser: Kaisers Klassik. 100 Meisterwerke der Musik, München 2001.23 Alexander Becker druckt in seinem Beitrag » Wie erfahren wir Musik?« beispielhaft die Noten von Chopins Presto-Finale vollständig ab, um zu demonstrieren, dass dem Satz alle sinnstiftenden Eigen-schaften einer strukturierten und nachvollziehbaren Form fehlten. In: Alexander Becker / Matthias Vogel (Hrsg.): Musikalischer Sinn – Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt am Main 2001, S. 265–313.24 Dadurch umfasst der Finalsatz in den meisten Notenausgaben nur 75 statt ursprünglich 77 Takte. Die hier verwendete MIDI-Datei gibt ebenfalls nur die gekürzte Fassung wieder.25 Hugo Leichtentritt: Friedrich Chopin, Berlin 2. verb. Aufl. 1920, S. 111.