40 Bernd Enders Im Gesamtergebnis bezieht sich Kinzlers Analyse allerdings kaum auf den letzten Satz der Sonate, denn dieser biete » die wenigsten Anhaltspunkte, um ihn auf die hier genannten Grundkonstellationen und Gestaltungsprinzipien zu beziehen.« In der musiktheoretischen Literatur bestünde vor allem Interesse an der zugrunde-liegenden Harmonik (ebenfalls mit einem Verweis auf Jurij Cholopow). Motivische Zusammenhänge durch gewisse Tonleiterausschnitte in den Sätzen hält er (zu Recht) als Beleg für zu vage, denn dann wäre » man rasch an der Grenze, wo alle Menschen letztlich vom selben Adam und derselben Eva abstammten « .40 Ursula Dammeier-Kirpal 41 verweist auf Edith Meister, die bereits 1936 bei Cho-pin als ein » wesentliches Stilelement […] die Bogenform der Melodie und die Pen-del- und Drehmotive mit Recht « hervorgehoben hatte,42 jedoch nicht bemerkt habe, dass die » wellenförmige Bewegungen « für die gesamte Sonate in charakteristischer Prägung als eine Art » Urbewegung « 43 zu verstehen seien – ein » Überwinden des klassisch-harmonischen Satzes, als einen Wiederausbruch der Bewegungsenergien der vorklassischen linearen Polyphonie « , wie bereits Ernst Kurth erkannt hatte.44 Wie in allen Sätzen der Sonate bestimmend,45 zeigen sich gerade im Finalsatz große wellenförmige Bewegungen (siehe dazu auch die MIDI-Keyroll-Darstellung des Fi-nalsatzes in Abb. 5).Nun soll an dieser Stelle keine weitere, letztlich unentscheidbare Diskussion der formalen, harmonischen, motivischen oder satztechnischen Unklarheiten erfolgen, sondern der Fokus des Betrachters auf neue Zugangsformen zu Chopins seltsamen Werk gelenkt werden. Eine konventionelle, funktionsharmonische Analyse muss unzulänglich bleiben, denn die latent zugrunde liegende Harmonik ist häufig durch chromatische Beziehungen, durch Rückungen und nur spärlich vorbereitete Modu-lationen charakterisiert, die verschiedenen Tonarten werden über Sequenzen melo-disch gekoppelt, stehen funktional eher frei nebeneinander ähnlich wie in der Jazz-harmonik. Formal wird das Ganze allenfalls zusammengehalten durch motivische Fortschreitungen, Verklammerungen, Motivwiederholungen, Kombinationen von Teilelementen, Ähnlichkeiten der Skalenausschnitte sowie Sequenzen und kaum durch satztechnische Logik.Oder entstand der Satz einfach beim fingertechnischen Erobern eines ungelieb-ten Klavierinstruments, denn der in Valldemossa angeforderte, spieltechnisch und klanglich von ihm präferierte Pleyel-Flügel mit seinem eher schlanken Grundklang kam und kam nicht an. Chopin komponierte nicht (nur) mit dem Schreibstift in der Hand, er dachte vom Klavier her, er ›komponierte‹ mit den Händen auf den Tasten. Es gibt durchaus ein Erfinden von Musik aus pianistischen Finger- und Handbewe-40 Kinzler: Chopins B-Moll-Sonate, S. 127–129 (s. Anm. 18). 41 Ursula Dammeier-Kirpal: Der Sonatensatz bei Frédéric Chopin, Wiesbaden 1973, S. 83.42 Edith Meister: Stilelemente und die geschichtliche Grundlage der Klavierwerke Friedrich Chopins, Diss. Hamburg 1936, S. 6f., zit. n. Dammeier-Kirpal: Der Sonatensatz bei Frédéric Chopin, S. 5, Anm. 18 (s. Anm. 41).43 Dammeier-Kirpal: Der Sonatensatz bei Frédéric Chopin, S. 89 (s. Anm. 41).44 Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners Tristan, Berlin 21923, S. 376.45 Vgl. Walter Georgii: Klaviermusik, S. 308 (s. Anm. 21).