Chopin reloaded (chpn_ op35_ 4.mid)41 gungen heraus, dazu kann jeder Jazzmusiker etwas beitragen und einem gerne im-provisierenden Pianisten ist diese Vorgehensweise gewiss nicht fremd.46 Und hat Chopin den 4. Satz kurzerhand angehängt, um die » klassischen « Vorstellungen von einer Sonate als ohnehin wenig geliebter Form 47 irgendwie zu erfüllen, mit einem Satz, der ursprünglich als Etüde, als Material für pianistische Fingerübungen ge-dacht war? Oder als Prélude wie das noch kürzere Presto-Prélude Nr. 14 in es-Moll aus den Préludes, op. 28, das ebenfalls ohne eigentliche Melodie mit triolischen Achteln (» mallorquinisch « , Tarantella-artig?) daherkommt, unisono im Oktavab-stand zu spielen ist und nicht viel früher (1838) geschrieben wurde, aber harmo-nisch doch sehr viel eindeutiger (gebrochene Akkorde, keine Skalen) ausfällt? Diese Annahmen mögen durchaus pausibel erscheinen, sollen hier jedoch nicht weiter verfolgt werden, da ein anderer, neuartiger Weg der Analyse und Interpretation in diesem Beitrag begangen werden soll.Folgt man eher einem poetisierenden, feuilletonistischen oder gar konzertpäd-agogischen Interpretationsansatz, dann ließe sich noch fragen, woran Chopin beim Komponieren dieses Satzes gedacht haben könnte, woher er seine Inspiration be-zog? In Kenntnis der Berichte George Sands aus Mallorca könnten der » Karneval und rhythmisch-klappernde Kastagnetten « oder der » trommelnde Regen und Don-nerklang « oder die » endlos repetierten, murmelnden Gebete der Karthäuser-Mönche « oder auch das » ständige Läuten und Blöken der Schafe aus der Ferne « als Eindrücke – vielleicht während der häufigen Fieberattacken Chopins – seine musi-kalische Phantasie beflügelt haben?48 Arthur Rubinstein assoziiert mit diesem Satz das » Sausen des Windes über den Gräbern « , eine Deutung, die viele Interpreten offenbar übernommen haben,49 die aber ähnlich schon der polnische Pianist und Komponist Carl Tausig gehabt haben soll, als er 1871, zwei Wochen vor seinem eigenen Tod, sich auf den Finalsatz bezie-hend ahnte: der » Wind bläst über mein Grab « und vorher schon programmatisch nach dem » Marche funèbre « darin » den Geist des Verstorbenen umherirren « sah.50 46 Vgl. dazu Hartmuth Kinzler: Frédéric Chopin. Über den Zusammenhang von Satztechnik und Kla-vierspiel, München u. Salzburg: Katzbichler 1977; Hartmuth Kinzler: Über die pianistische Erfindung musikalischer Strukturen in Chopins ›Rondo C-Dur‹ Op. 73, in: Chopin and his Work in the Context of Culture, hrsg. von Irena Poniatowska, Kraków: Polska Akademia Chopinowska. Narodowy Insty -tut Fryderyka Chopina. Musica Iagellonica, Kraków 2003, Vol. 1, S. 411–432. 47 Die 1. Sonate in c-Moll, op. 4, lässt zwar schon etwas von dem experimentierfreudigen Komponisten erahnen, aber sie wirkt noch unbeholfen, musikalisch wenig überzeugend, der langsame Satz steht zwar lange vor » Take Five « im 5/4-Takt – ist aber sperrig und auch ohne jeden Swing geschrieben; die 3. und letzte Klaviersonate in h-Moll, op. 58, gleicht der 2. zwar im formalen Aufbau, wirkt aber ins-gesamt verbindlicher und weniger ungewöhnlich.48 Vgl. die Erzählungen von George Sand, wiedergegeben von Bartomeu Ferra: Chopin und George Sand auf Mallorca, Palma de Mallorca 1972, S. 31–34.49 So auch der im Jahre 2011 verstorbene russische Pianist Vladimir Krainev, der für die innere Vorstel -lung für eine adäquate Interpretation des Satzes einen Sturmwind auf einem Friedhof assoziiert, der alle Spuren einer vom Trauermarsch symbolisierten Beerdigung hinwegfegt (mündlich von der Toch-ter des Verfassers Saskia aus einer Klavierstunde bei Krainev überliefert).50 William S. Newman: The Sonata Since Beethoven, New York 1972, S. 491 [ins Deutsche übersetzt vom Verf.].