Chopin reloaded (chpn_ op35_ 4.mid)47 Im Vergleich der Amplitudenverläufe, Sonagramme und subjektiven Hörein-drücke der insgesamt 18 verschiedenen Interpretationen,58 fällt allerdings auf, dass fast alle Pianisten zumindest ein schnelles, den Eindruck des virtuosen Spiels stei-gerndes Tempo vorlegen, bis zur hörbaren Grenze der Leistungsfähigkeit oder un-differenziert wie Idil Biret. Dessen ungeachtet hört man in der langsamsten Version von Alfred Cortot (~ 1:30) die meisten Fehler. Fred Oldenbourg lässt sich in einer recht sorgfältigen Einspielung ebenfalls anderthalb Minuten Zeit, was bei 75 Takten im 4/4-Takt (Viertel pro Triolenachtel) ca. 200 MM bedeutet, der aktuell gefeierte junge Chinese Yundi Li legt offenbar nur Wert auf Tempo und kommt mit 1:15 min hin, was einem Tempo MM= 240 entspricht, im übrigen eine musikalisch völlig un-brauchbare Aufführung, ungenau polternd, unschön im Klang, von einem komplet-ten Missverständnis des Finalsatzes zeugend – egal welches Interpretationsver-ständnis man anwendet.In den Konservatorien – so erzählt man anekdotisch – soll sogar im pianistischen Wettbewerb das Ziel bestehen, auf eine Minute zu kommen; das entspräche dann MM = 300 – kein Problem für den Computer als ›Interpreten‹, der eine MIDI-Datei fast beliebig schnell abspielen kann, wenn man denn im sportlichen Spitzenwert ei-nes schnellen Tempos die musikalische Erbauung sucht.MUSIKBEISPIEL 2: » sotto voce – legato – 300 bpm « Dieses Klangbeispiel wurde mit dem Sequencer-Programm Cubase 5 und ei-nem Flügel-PlugIn realisiert, nachdem sämtliche Dynamik- und Agogikpara-meter der schon erwähnten MIDI-Datei /chpn_ op35_ 4.mid/ mit einer generell wirksamen Funktion (» Controllerdaten löschen « ) entfernt worden waren. Das Tempo wurde auf bpm = 300 gesetzt (zur Sicherheit hier bestätigt: 1 beat = 1 Viertelnote = 3 Triolenachtel). Wenn Presto üblicherweise mit 170–200 MM angegeben wird, spielt heute also schon der langsamste Interpret an der obersten Grenze des Prestobereichs. Anatoly Leiken kritisiert denn auch ein zu rasches Tempo, da er vermutet, dass Chopin beim Kom-ponieren des Finales vielleicht ein Cello im Sinn gehabt hatte, ein Instrument, das neben dem Klavier noch gewisse Sympathien in ihm erweckte, möglicherweise mo-tiviert vom Präludium aus Bachs Suite in D-Dur für Violoncello solo, BWV 1012, weil eine gewisse Ähnlichkeit bei den durchlaufenden Achteltriolen auftritt und motivisch eine Nähe zum Hauptthema des 1. Satzes von Chopins Klaviersonate op. 35 auffiele. Entsprechend dürfe das Finale auch nicht zu schnell gespielt werden [sic!], da andernfalls kein Formgefüge erfasst würde und der Satz » athematisch « 58 Es gibt offenbar bis zum jetzigen Zeitpunkt (2011) ca. 80 Einspielungen der 2. Klaviersonate. Man möge es dem Verfasser nachsehen, wenn er diese nicht alle berücksichtigt hat, sondern lediglich einen Set von 18 (mehr oder weniger zufällig zusammengestellten) charakteristischen Interpretatio-nen exemplarisch in die vergleichende Betrachtung einbezieht.