48 Bernd Enders wirke, denn eigentlich wäre er » a system of tonal and melodic repeats that creates a tangible trace of sonata form.« 59 Über historische Tempi gibt es allerdings kontrovers diskutierte Auffassungen, die u.a. von Hartmuth Kinzler differenziert verglichen und kommentiert werden 60 Die Pianistin und Musikwissenschaftlerin Grete Wehmeier versuchte zu beweisen, dass die Klavierstücke früherer Epochen (speziell der Klassik und Romantik – aus-gelöst vielleicht durch das Virtuosentum eines Liszt oder Paganini) heutzutage grundsätzlich viel zu schnell gespielt werden. Sie äußerte die Ansicht, dass die alten Metronomzahlen später als ein Schlag pro Klick missverstanden wurden. Das sei doppelt so schnell als damals gedacht, weil ursprünglich das Auf- und Ab der Hän-de eines Dirigenten pro Taktschlag durch das Hin- und Herpendeln des Metronoms imitiert werden sollte, so dass folglich der Taktschlag durch eine vollständige Schwingung des Pendels angezeigt und nicht durch eine halbe Schwingung – wie heute allgemein angenommen wird.61 Hätte Wehmeier recht, dann wäre das Tempo der hier untersuchten Interpretationen wohl prinzipiell viel zu schnell und man müsste eher von Fehlinterpretationen sprechen. Schon Beethoven soll sich über zu schnelles Spiel der Pianisten seiner Zeit beschwert haben: » Auf den Virtuosen liegt ein Fluch. Ihre geläufigen Finger laufen immer mit dem Gefühl, oft auch mit dem Verstande davon […]« .62 Noch etwas fällt auf, wenn man die verschiedenen Aufnahmen immerhin alle-samt weltbekannter Pianisten vergleicht. Einige setzen – bewusst oder unbewusst? – auf eine deutlich gestalterische Interpretation, versuchen die einzelnen Motive bzw. ihre Sequenzierung herauszuheben, machen formale Abschnitte hörbar, z. T. durch stark wechselnde dynamische Effekte (z. B. in der historischen Aufnahme von Ser-gei Rachmaninoff). Fast alle versuchen jedoch – mehr oder weniger prägnant bzw. mehr oder weni-ger gelungen – durch Betonungen und (de)crescendi melodische Elemente aus dem Dauergewitter der Achteltriolen hervorzuheben – besonders deutlich zu hören etwa in einer neueren Aufnahme 63 von der hoch geschätzten französischen Pianistin Hélène Grimaud, die auch vergleichsweise ziemlich langsam spielt (Dauer ca. 1:30 min), und bei Igor Pogorelich mit eigenwilligen Rubati. In der Interpretation von Vladimir Ashkenazy lassen sich einige musikalisch relevante agogische Bewegun-gen entdecken, die sich besser erkennen lassen, wenn man diese Einspielung am Computer mit digitalem time stretching um 20 % Prozent verlangsamt. 59 Anatoly Leiken: The Sonatas, in: The Cambridge Companion to Chopin, hrsg. von Jim Samson, Cam-bridge 1992, S. 175.60 Vgl. dazu Hartmuth Kinzler: Die Metronomzahlen und ihre Deutung. Kolisch, Talsma und die Fol-gen, in: Kulturwissenschaften aktuell, hrsg. von Reinhold Mokrosch, Osnabrück 1991 (Schriftenreihe des Fachbereichs Erziehungs- und Kulturwissenschaften der Universität Osnabrück 12), S. 211–262.61 Grete Wehmeier: Prestißißimo! Die Wiederentdeckung der Langsamkeit in der Musik, Reinbek bei Hamburg 1989; vgl. dazu auch die recht überzeugenden Interpretationsvergleiche auf der WWW-Seite http://www.tempogiusto.de/metronom.html, letzter Zugriff 31.12.2012.62 Zit. n. Wehmeier: Prestißißimo, S. 73 (s. Anm. 61).63 Die von einigen Kritikern jedoch durchaus negativ beurteilt wird.