Chopin reloaded (chpn_ op35_ 4.mid)49 2. Exkurs: Der innere Zwang zum aktiven » Grouping « Wahrscheinlich lässt sich eine irgendwie phrasenbasierte Interpretation auch nicht einmal völlig vermeiden, denn der Mensch sucht in akustischen Signalen nach Haltepunkten, um sich im Fluss der Schallschwingungen orientieren zu können, er gestaltet das Gehörte in unterscheidbare – musikalisch möglichst sinnhafte – Abschnitte, ja er hört erstaunlicherweise sogar aus einem normal gesprochenen Satz eine Melodie heraus bzw. hört diese unwillkürlich hinein, wenn dieser Satz nur oft genug wiederholt wird, ein viel beachtetes Ergebnis eines Versuchs der amerikanischen Musikpsychologin Diana Deutsch.64 Es erfolgt eine zwingende Strukturierung der klanglichen Ereignisse durch ein aktives Grouping auf dem Weg der Informationsverarbeitung über die Hör-bahn bis in die höheren Gehirnregionen. Herbert Bruhn vermutet, dass auf der untersten Ebene der Hörwahrnehmung ein Zeitfenster für klangliche Einzel-ereignisse als Filter wirksam ist und auf höherer Ebene ein Zeitfenster für die Gruppierung von Ereignissen: » Die Gewichtung erfolgt durch Gruppierung nach Prinzipien der Gestaltwahrnehmung und durch die Wahrnehmung von Akzenten « .65 Timo Fischinger spricht in diesem Zusammenhang von » oszilla-torischen Prozessen im Gehirn « , die sich zu rhythmischen Ereignissen syn-chronisieren (lassen). Und er verweist auf das Phänomen, dass im rhyth-mischen Verlauf bestimmte Akzente, etwa durch eine exponierte Tonhöhe, durch dynamische Betonung oder Verlängerung der Tondauer, mit der Folge, dass Anfangs- und Endtöne für das Hören einer Gruppe von Klangereignissen (= Motiv, Pattern o.ä.) (» Kategoriale Wahrnehmung « ). Aber auch dann, wenn überhaupt keine objektiv messbaren Akzente im musikalischen Verlauf vor-handen sind (vgl. die notenmäßig exakte MIDI-Einspielung ohne jede Dyna-mik etc. = » isochrone Tonfolgen mit identischen Tönen und gleichbleibenden Notenwerten « ), versucht der Hörer unwillkürlich die wahrgenommenen Ein-zelereignisse (also z. B. Töne) in kleinen Gruppen zu ordnen, indem er bei der geistigen Verarbeitung Akzente setzt – eine spontane Aktivität, die sicherlich bei Pianisten, die das (auswendig) zu spielende Stück innerlich vorhören, in gesteigertem Maße anzutreffen sein wird.66 Fischinger verweist hier auf Wundt, der 1874 eine subjektive Rhythmisierung erkannte und sogar auf Jo-hann Georg Sulzer, dem dieses Phänomen ebenfalls schon aufgefallen war.67 Die große Bedeutung der objektiven und insbesondere subjektiven Akzentsetzung für das Hören musikalischer Gestalten ist im Zusammenhang mit der Analyse und Interpretation des Finalsatzes der 2. Klaviersonate von Chopin natürlich von einer 64 Diana Deutsch: The Speech-to-Song Illusion, 156th ASA Meeting, Miami, FL, http://philomel.com/asa156th/deutsch.html, mit erläuternden Texten und Klangbeispielen, letzter Zugriff 08.08.2011.65 Herbert Bruhn: Zur Definition von Rhythmus, in: Rhythmus. Ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. v. Katharina Müller / Gisa Aschersleben, Bern 2000, S. 45.66 Timo Fischinger: Zur Psychologie des Rhythmus, Kassel 2009, S. 27ff.67 Ebd., S. 28.