50 Bernd Enders besonderen Wichtigkeit, weil ja die durchlaufenden Achteltriolen des Notenbildes keine rhythmische Anhaltspunkte für eine motiv-thematische Gestaltbildung abge-ben. Letztere kann nur aus der melischen Bewegung des Satzes extrahiert werden – frei nach dem Motto: » Ich höre was, was du nicht siehst « . Es ist schwer vorstellbar, dass Chopin als Komponist und Interpret diese rezeptionspsychologischen Zusam-menhänge nicht – zumindest unbewusst – erkannte oder wenigstens ahnte, so dass er vermutlich nicht ernsthaft erwartet hatte, dass jemand den Satz ohne jede sponta-ne Akzentsetzung, ohne innere musikalische Gestaltbildung, also ohne den Versuch, Motive und Phrasen zu hören bzw. zu modellieren, spielen würde oder könnte (es sei denn, dass er vorausschauend schon den Computer als möglichen Interpreten vor Augen gehabt hätte). Encodiert: Satz mit Hintergedanken Was ist nun mit den Gedanken über Chopins » Hintergedanken « ? Es sei folgende – für den einen oder anderen Chopin-Puristen vielleicht etwas gewagte – These ge-stattet, dass Chopin mit dem Finalsatz der 2. Klaviersonate gewissermaßen ein Grundmuster, ein Modell für eigene Improvisationen des ausführenden Pianisten komponierte und die konkrete Notation zum ad-libitum-Spiel oder genauer: zur ad-libitum-Interpretation auffordert. Während es in herkömmlichen Analysemethoden immer um eine Reduktion der musikalischen Geschehnisse geht, um eben zugrun-deliegende motivische, formale oder harmonische Strukturen nachzuweisen, wird hier der Versuch gemacht, eine reduzierte Linie genau um diese Strukturen zu er-weitern und das möglicherweise intendierte musikalische Potential aufzudecken. Dass Pedalanweisungen völlig fehlen, kann ebenfalls in diesem Sinne gedeutet wer-den, denn normalerweise nutzte Chopin das Pedal essentiell für eine subtile Klang-nuancierung seiner Werke.Je nach Akzentuierung verstecken sich in den (flirrenden) Achtelketten unter-schiedliche Motive mit bestimmter melodischer und rhythmischer Prägnanz und damit einhergehend variierende harmonische Deutungsmöglichkeiten, so dass den Pianisten eine Vielzahl von individuell gestalteten Interpretationsversionen offen-stünde, vergleichbar mit der Freiheit einer solistischen Kadenz im Klavierkonzert oder dem barocken Präludieren. Chopins knapper Hinweis, dass die beiden Hände miteinander ›plaudern‹68 , ist möglicherweise dahingehend zu verstehen, dass er sich eben keine gleichmäßige unisono-Interpretation vorgestellt hat, sondern ein be-redtes Wechselspiel der beiden Stimmen, gerade mit unterschiedlichen Abstufungen der Dynamik, vielleicht in kanonischer Aufeinanderfolge, mit verschieden gesetzten Akzenten, mit sinntragenden Betonungen von ausgewählten Phrasen und bewusst gesetzten formalen Abschnitten, wie es die hier untersuchten Pianisten denn auch mehr oder weniger deutlich, jedoch kaum reflektiert und meistens wenig folgerich-tig verwirklichen. 68 Siehe Anm. 18.