Chopin reloaded (chpn_ op35_ 4.mid)55 Komposition auszeichnet. Das musikalische Material wurde folgerichtig neu organisiert, so dass die formalen Strukturen bestimmten Hör(er)erwartungen entsprachen durch gegliederte Abfolgen von Themen, Satzteilen, Formelemen-ten usw., eine Musik, die sich (absolut) selbst genügt, ohne auf Nachahmung oder Darstellung von Dingen außerhalb des rein Musikalischen angewiesen zu sein. Die Form eines ästhetischen Werkes wurde bedeutsamer als der Inhalt. Kivy: » In seiner reinen, elementaren Bedeutung verlangt der regulierende Code: ›Richte deine ganze Aufmerksamkeit auf die Musik und sonst nichts.‹« 77 Während nun im 20. Jahrhundert die Dodekaphonie und der Serialismus mit dem » expressiven Code « brach, immerhin eine seit der Erfindung der Oper konstitutierende Grundkomponente der westlichen Kunstmusik, so brach die Minimal Music mit dem regulierenden Code.78 Daher sieht Kivy folgerichtig im Minimalismus eine » noch umwälzendere musikalische Revolution als das Zwölftonsystem « , da er konsequent » das alles durchdringende musikalische Axiom der Instrumentalmusik der Neuzeit zurückweist: den regulierenden Code der ästhetischen Haltung.« Mit dem Bruch mit den regulativen Ordnungsstrukturen des klassisch-roman-tischen Kunstverständnisses manifestieren sich die beiden wichtigsten Kom-positionsprinzipien der Minimal Music, d.s. erstens die Reduktion der musi-kalischen Gestaltungsparameter und der (fast verschwindenden) formalen Struktur einer Komposition, zweitens die » endlose « Repetition von kleineren musikalischen Einheiten (» patterns « ), so dass Melodien weniger aus der Idee eines charakteristischen Themas resultieren, sondern vielmehr als Ergebnis verschiedener Akzente eines gewissermaßen kreisenden, aber in steter Verän-derung begriffenen klanglichen Prozesses (z. B. durch Phasenverschiebungen) entstehen; dazu liefert ein monoton-klopfender Rhythmus die pulsierende Grundlage, ein ästhetisches Prinzip, das nicht leichthin mit den Beats der Pop-musikkultur verglichen oder verwechselt werden sollte, wie Johannes Ull-maier engagiert nachzuweisen versucht.79 Einige substantielle Aspekte minimalistischer Kompositionsideen können in Cho-pins Finalsatz der b-Moll-Klaviersonate durchaus aufgefunden werden: die totale Reduktion des Rhythmus auf eine pulsierende Achteltonfolge als vorwärtstreiben-der Träger des musikalischen Ablaufs, der Verzicht auf eine explizit ausformulierte Harmonik, die relativ konsequente Repetition patternartiger Melodiefragmente, mithin Gestaltungselemente, die sowohl Steve Reichs musikästhetischer Idee einer Musik als Prozess und Philip Glass' Musikbegriff im Sinne einer Mosaikform vorbe-77 Ebd., S. 67.78 Ebd., S. 71.79 Johannes Ullmaier: Minimalismus als Minimalkonsens musikalischer Alltagskultur? In: minimalisms – Rezeptionsformen der 90er Jahre, Tagungsband des Festivals der Berliner Gesellschaft für Neue Musik, hrsg. von Christoph Metzger, Nina Möntmann und Sabine Sanio, Berlin 1998, S. 132–145.