58 Bernd Enders und Interpretation eröffnen, um auch sattsam bekannte Werke der europäischen Kunstmusik neu zu verstehen oder einfach neu – in modernerem Klanggewand – zu hören. Zusammenfassend sollen abschließend folgende Thesen zum Finalsatz der b-Moll-Sonate formuliert werden: These 1: Der Finalsatz sollte deutlich langsamer und vor allem durchsichtiger ge-spielt werden, um die latent vorhandenden, sequentiell angeordneten Motive und Themen überhaupt in einer Interpretation hörbar machen zu können. Ein völlig gleichmäßiges Spiel ohne jede Betonung käme einem Missverständnis der Chopin-schen Intention gleich. Keinesfalls dürfen die laufenden Achtelnoten im Dauerpedal verschwimmen, wenn der dahinströmende motivische Reichtum des Satzes erkenn-bar bleiben soll. Die meisten der hier vergleichend untersuchten Einspielungen sind in diesem Sinne als sinnverfehlende, totale Fehlinterpretationen einzustufen.These 2: Die Chopinsche Anweisung » Sotto voce und legato « ist bestimmt nicht zu verstehen als ein möglichst rasches und lebloses oder gar unmusikalisches Herun-terspulen der Töne, ohne die im Fluss der Achtelketten potentiell enthaltene Moti -vik mit geeigneten – individuell gespürten – Akzentsetzungen und dynamischen Abstufungen aufleuchten zu lassen und in einer originalen Interpretation auf ein-zigartige, hintersinnige Weise hörbar zu machen. Die relativ langsame Interpreta-tion von Hélène Grimaud belegt positiv im Vergleich zu den meisten anderen Ein-spielungen, dass ausgesprochen interessante motivische Einzelheiten und innermu-sikalische Bezüge ›hörbar‹ verlorengehen, wenn der Finalsatz in einem extrem vir-tuosen Tempo gleichsam ›heruntergefegt‹ wird. These 3: Der Finalsatz ist möglicherweise als kompositorische Grundlage für die weitere, vom improvisierenden Pianisten spontan zu interpretierende melodische Ausgestaltung gedacht. Die linke und rechte Hand sollten unterschiedliche Beto-nungen, dynamische Abstufungen und kanonische Effekte umsetzen, musikalisch empfundene Akzente unterstreichen die versteckte Motivik und heben sie als melo-dische Fragmente ins Hörbewusstsein, eine individuelle Interpretation ist aus dieser Sichtweise heraus gerade erwünscht. These 4: Der Finalsatz kann vielleicht sogar als motivisch-thematisches Gerüst für eine strukturelle Erweiterung in der Art minimalistisch-repetitiver Pattern-strukturen der Minimal Music dienen und damit sogar auf eine angemessene, an die anderen Sätze der Sonate angeglichenen Länge ›gestreckt‹ werden.Das Finale ist in diesem Sinne als ein Modell für eine künstlerisch-individuelle Er -weiterung zu verstehen, als ein ideenreicher Entwurf, der den Pianisten die Freiheit waltungsdingen herumschlagen müssen. ›Casimir‹ ist zufällig auch der Vorname des ersten Ehe-manns von George Sand, dem Chopin freundschaftlich verbunden war.