Chopin reloaded (chpn_ op35_ 4.mid)59 gibt, darüber zu improvisieren, auf eigene Weise zu interpretieren, kompositorisch zu erweitern, vergleichbar mit den aleatorischen Elementen in Karlheinz Stockhau-sens » Zyklus « , Terry Rileys » In C …« oder Eric Saties » Vexations « . Zwar ist der Satz nicht gerade hitverdächtig wie viele andere Kompositionen von Chopin, aber er kann als geniale Vorwegnahme des grundlegenden Prinzips repetitiver Patterns in der Minimal Music der 1960er Jahre verstanden werden. Er schlägt damit eine Brücke von der barocken Improvisationskunst der Präludien und Toccaten über die virtuose Klaviertechnik der Romantik hin zu innovativen Musikauffassungen des 20. Jahrhunderts. George Sand soll einmal – manche Rezeptionsprobleme der Cho-pinschen Kompositionen vorausahnend – gesagt haben: » Bedeutende Fortschritte in dem Geschmack und in dem Verständnis für die Kunst sind notwendig, ehe seine Werke Volkstümlichkeit erlangen werden.« 85 Chopin erweist sich gerade mit diesem Finalsatz als wegweisender Komponist seiner Zeit, als weit dem kompositorischen Mainstream vorauseilender Visionär, als ein ›musikalischer Erneuerer‹, der mehr als ein Jahrhundert vor der Entstehung der amerikanischen Minimal Music, mehr als 70 Jahre vor den Patterns des Jazz und mehr als 50 Jahre vor den » Vexations « 86 eines Eric Satie (1893) oder den sprechme-lodischen Ostinati eines Leoš Janáček die spätere Bedeutung linear angeordneter, rhythmisch pulsierender und repetierender Motive – wohl eher unbewusst als be-wusst – erahnte und gewissermaßen die kompositorische Kraft des unablässig wie-derholenden, vorwärtstreibenden und dabei variierten Loops entdeckte.Durch die exemplarisch hier vorgestellte musikalisch gefühlte Akzentuierung von Spitzentönen in der unaufhörlichen Achteltonkette und/oder in der Repetition der Chopinschen ›Patterns‹ im Finalsatz der 2. Klaviersonate zeigt sich deutlicher als im üblichen Sauseschritt der meisten pianistischen Interpretationen die inne-wohnende melodische Kraft der ›integrierten‹ Motive, mit denen Chopin geradezu verschwenderisch auf engstem zeitlichen Raum umgegangen ist und die sich nur entfalten können, wenn der Interpret bereit ist, sie herauszuhören, zu formen und vielleicht sogar zu erweitern. In diesem Sinne sei abschließend ein Ausspruch des französischen Jazzpianisten Jacques Loussier zitiert, der bekanntlich virtuos über barocke und klassische The-men improvisierte: » Musikmachen heißt, etwas zu nehmen und daraus etwas Eige-nes zu machen. Musik ohne Austausch ist tot.« 87 85 Zit. nach Ferra: Chopin und George Sand, S. 52 (s. Anm. 48).86 Ebenfalls ein Meilenstein, der aber erst 1949 in Druck ging und 1963 wesentlich von John Cage mit ei -ner Aufführung bekannt gemacht wurde. Eric Saties frühe Repetitionen (im Sinne eines zukunftswei-senden Proto-minimalismus sind – gemessen an dem breiten und nachhaltigen Erfolg der späteren Minimal Music – weitblickender und erfolgsorientierter gewesen als die eigentlich von der Tasten-oktave her konzipierte Zwölftontechnik Arnold Schönbergs.87 Jacques Loussier im Interview mit Wolfgang Dichans, in: Keyboards (1988), H. 2, Februar, S. 48.