Hanns Eisler: » Kriegslied eines Kindes « 63 Der gesamte Liederzyklus enthält politische Botschaften und Überzeugungen. Er ist als sozialkritischer Bilderbogen konzipiert, der mit einigem Realismus auf die Armut von Straßenkindern und die eingeschränkten Lebensbedingungen von Teilen der Großstadtbevölkerung eingeht. Daraus leitet Eisler offensichtlich die Legitima-tion her, auf literarisch bedeutsame Texte zu verzichten. Er bevorzugt, wie der in-haltliche Überblick bereits erkennen lässt, Milieudarstellungen, die er in Berichts- und Erzählformen kleidet, welche eine gewisse Distanz zum jeweiligen Thema er-möglichen. Das Gebot der Distanz gilt auch für die Musik, die seiner Auffassung nach weder illustrieren noch » psychologisieren « soll.3 Armut und Not der Nachkriegsjahre, unter denen besonders die Kinder zu lei-den hatten, wurden auch von anderen Komponisten als Themen aufgegriffen. Die » Lieder eines armen Mädchens « z. B., die Friedrich Hollaender Anfang der 1920er Jahre in Berlin für seine erste Ehefrau Blandine Ebinger schrieb,4 lassen sich hin-sichtlich ihrer Thematik durchaus mit den » Zeitungsausschnitten « vergleichen.» Kriegslied eines Kindes « – der Text » Wählt euch Texte und Sujets, die möglichst viele angehen. Versucht, eure Zeit wirklich zu verstehen, aber bleibt nicht bei bloßen Äußerlichkeiten hängen « 5 – mit diesen Worten forderte Eisler seine kompositorischen Mitstreiter auf, der von ihm gefürchteten Isolation in der modernen Kunst zu entgehen. Welches Thema könnte wenige Jahre nach Beendigung des Ersten Weltkrieges wohl aktueller sein, als der Krieg und seine Folgen.Im » Kriegslied « erzählt ein Kind verhalten und scheinbar emotionslos von seiner Mutter, die als » Soldat « in eine kleidsame Uniform gesteckt wird, den Kampf im Schützengraben aufnimmt und dabei umkommt. Ungewöhnlich an diesem Bericht ist der von persönlicher Anteilnahme freie Tonfall. Verwundung und Tod werden aus der Perspektive eines Kindes geschildert, das nicht fassen kann, was geschieht und sich der Schwere der Vorfälle nicht recht bewusst ist. Umgangssprachliche For-mulierungen und naive Reime bestimmen den monoton wirkenden Vortrag, der mit seinen unterschiedlichen Episoden weniger ein Gedicht als eine stilisierte Prosa-Erzählung ist. Im Gegensatz zwischen der unprätentiösen Form und dem hinter-gründigen Inhalt offenbart sich allerdings gerade die artifizielle Konzeption. Sie macht aus dem kleinen Erzähler eine Kunstfigur, mit der das Kriegs-Geschehen na-hezu abgeklärt und neutral dargestellt werden kann, ohne etwas von seiner Grau-samkeit einzubüßen.3 Hanns Eisler: Einiges über das Verhältnis von Text und Musik, in: ders.: Materialien zu einer Dialek-tik der Musik, Leipzig 1973, S. 257–263, hier S. 261.4 Vor allem Nummer 7: » Wenn ick mal tot bin « , CD Tim Fischer: » Lieder eines armen Mädchens « , Text und Musik von Friedrich Hollaender, EMI-Elektrola, LC 2528, ELE 700 106, Bremen 1996.5 Hanns Eisler: Zur Situation der modernen Musik [1928], in ders.: Materialien zu einer Dialektik der Musik, Leipzig 1973, S. 52–56, hier S. 56.