70 Sabine Giesbrecht durch vordergründige Illustrationen des Textes subjektive Gefühle beim Hörer aus-lösen, sondern – und hier zitiert er Hegel – » gleichsam die Sache selbst, das heißt die Tiefe seiner Bedeutung « aussprechen.19 Die Sache selbst ist, von außen oder vom Text her betrachtet, der von einem Kind beobachtete oder aus der Erinnerung wiedergegebene Tod seiner Mutter, die an einer nicht weiter bezeichneten Kriegsfront Dienst als » Soldat « tun muss. Aus Sicht des Komponisten und seiner Musik verbirgt sich dahinter aber sehr viel mehr, nämlich eine Tragödie, die sich mit Worten gar nicht darstellen lässt. Hier setzt die Komposition an und verrät mit vielen Gesten und in ihrer eigenen Sprache, was es mit der Sache selbst auf sich hat. Es sind die Schrecken des Krieges, denen die Men-schen schutzlos ausgesetzt sind und unter denen sie zu leiden haben.Schon die musikalische Faktur der beiden Refrain-Themen ist so angelegt, dass sie dem Publikum etwas über den Zustand von Mutter und Kind sowie über ein all-gemeines Klima der Angst mitteilen. Das vier Mal wiederholte Thema der Mutter erscheint in perfekter syllabischer Deklamation und, von einer Ausnahme abgese-hen, in absteigenden, die Unterterz ansteuernden Halbton-Stufen. Diese chroma-tische, für das Gefühl der Trauer reservierte Affektfigur ist charakteristisch für die Rede des Kindes, das bedrückt und von Anfang an sozusagen mit gesenktem Kopf die Bühne betritt. Es bezieht seinen energetischen Impuls nicht nur aus der Schwer-kraft der Abwärtsbewegung, sondern auch aus seinem atemlos wirkenden Auftre-ten inmitten des Taktes und auf jeweils unbetonten Taktteilen.20 Diese gleichsam führerlosen Einsätze verstärken den Gestus der Unsicherheit und Beklemmung.Melodisch bleibt das Hauptthema im Verlauf des Stückes unverändert, ausge-nommen in Takt 26f. In unmittelbarem Anschluss an die geschilderte Verwundung der Mutter durch die » schwarzen Rab'n « entwickeln sich hämmernde Tonrepeti-tionen zu einem Schrei, der sich für die Dauer von drei Vierteln und im Forte in die Oberterz entlädt. Die Klavierstimme nimmt das vorangehende Crescendo noch ein-mal auf und erweitert es zum dreifachen Forte, als entfalte sich der starke Schmerz des Kindes erst einige Sekunden später.Am Ende des Liedes hört man das Thema der Mutter bei Takt 38f. wieder in der Ausgangsfassung. Aber es ist – beeinflusst von dem vorangehenden, geradezu bös-artig wirkenden » Trara – Ratata « -Kommentar – nicht mehr das, was es vorher war. Es überlässt sich zum Sterben der nachfolgenden instrumentalen Coda, die zur Ein-zelstimme ausgedünnt unaufhaltsam bei Tempo I abwärts zieht und nach einem ra-biaten, akkordischen Sforzato-Schlag bei Takt 40 völlig versinkt. Das ist das Ende. Tritonus-Sequenzen geleiten die Mutter in die Tiefen der Kontra- und Subkontra-Oktave.19 Ebd., S. 260.20 Erstes Auftreten auf dem vierten Achtel im 4/4-Takt; zweites, drittes und fünftes Auftreten auf dem sechsten Achtel im 5/4-Takt; viertes Auftreten auf dem zweiten Achtel im 3/4-Takt, hier immer mit c'' beginnend, verändert zu fis'' in Takt 26f.