78 Martin Gieseking Heute, 25 Jahre später, gehört das Notenstecherhandwerk genauso zu den technisch überholten Künsten wie Breitkopfs Typendruck, den der von John Walsh revolutio-nierte Notenstich im 18. Jahrhundert einst verdrängte. Im digitalen Zeitalter werden Noten nahezu ausschließlich mit dem Computer angefertigt, denn die Vorteile ge-genüber den mechanischen Varianten liegen auf der Hand: Die zahlreichen Be-standteile des Notentextes können schnell via MIDI-Keyboard, Computer-Tastatur oder Maus eingegeben werden. Fehler lassen sich dabei jederzeit rückstandslos kor-rigieren. Darüber hinaus entfällt die vorbereitende aufwändige Planung und Eintei-lung der Druckseiten komplett, da einmal eingegebene Komponenten nachträglich frei verschoben und neu angeordnet werden können. Eine perfekt eingerichtete Druckseite lässt sich auf diese Weise in einem Bruchteil der Zeit realisieren, die ein Notenstecher für das gleiche Resultat benötigte. Ein Blick in aktuelle Notenausga-ben der großen Musikverlage lässt dabei kaum Unterschiede zu den alten gestoche-nen Pendants erkennen. Die Verwendung hauseigener Notenfonts sowie die Über-tragung der verlagstypischen Notensatz-Charakteristika auf den Computer sorgen für die perfekte Imitation des gestochenen Notenbildes, das auch heute noch die Qualitätsmaßstäbe vorgibt.Die Leistungsfähigkeit und der geringe Anschaffungspreis heutiger Hard- und Software ermöglicht es nicht nur Verlagen sondern jedem interessierten Musiker sei-ne eigenen gedruckten Noten anzufertigen. Die Kunst des Notensatzes, die für Jahr-hunderte in den Händen langjährig ausgebildeter Spezialisten lag, wird heute folg-lich nicht nur von professionellen Notensetzern, sondern auch von Autodidakten ausgeübt. Damit stellt sich unmittelbar die Frage, ob die Software das gesamte Wis-sen eines menschlichen Notensetzers modelliert und somit in der Lage ist, quasi au-tomatisch professionelle Resultate zu erzeugen, ohne dass der Anwender eigenes Know-how in die Nachbearbeitung einfließen lassen muss. Die Antwort auf diese Frage ist relativ eindeutig zu verneinen. Beim Vergleich einer professionell gesetz-ten Notenseite mit dem automatisch generierten Layout führender Notensatzpro-gramme fällt sofort das unharmonische, starr und irgendwie überarbeitungsbedürf-tig wirkende Notenbild auf. Welche Parameter für diesen Eindruck verantwortlich sind, erschließt sich aber meist erst bei genauerer Untersuchung. Neben zahlreichen Unzulänglichkeiten bei der Balken- und Bogensetzung fällt insbesondere die unzu-reichende Berechnung korrekter Abstände aller Art ins Auge, beginnend bei der No-ten- und Pausenausrichtung bis hin zur Verteilung automatisch umgebrochener Ak-koladen auf mehrere Seiten. Noch mehr als beim Textsatz sind korrekt gewählte Ab-standsproportionen aber ein wichtiger Bestandteil des Notenbildes und entschei-dendes Qualitätsmerkmal, denn sie ermöglichen den Musikern beim zeitkritischen Musizieren ein reibungsloses Blattspiel. Dass das automatische Spacing der derzeit führenden Notensatzprogramme den Maßstäben der Verlage häufig nicht gerecht wird und manuell optimiert werden muss, wird von Elaine Gould, der Leiterin der Notensatzabteilung für Neue Musik bei Faber Music, wie folgt angedeutet: