90 Martin Gieseking rung dieses Prozesses vorgeschlagen wurden, die einen deutlich einfacheren Um-gang mit dem Problem des Zeilen- und Seitenumbruchs erlauben. Diese basieren im Kern auf den Ideen von Donald E. Knuth, der Anfang der 1980er Jahre für sein Text -satzsystem TeX einen Algorithmus zur Berechnung optimaler Umbruchstellen für Textdokumente entwickelte.20 Dabei werden die Textzeilen nicht einfach, wie bei vielen Textverarbeitungen üblich, sukzessive mit Wörtern gefüllt und dann bei Be-darf lokal, ohne Berücksichtigung der übrigen Zeilen umgebrochen, sondern der Al-gorithmus betrachtet den gesamten Absatz und ermittelt auf Grundlage der mögli-chen Trennstellen und der Breiten der entstehenden Wortzwischenräume eine opti-male Absatzformatierung mit Randausgleich. Auf diese Weise entsteht ein sehr aus-gewogenes Druckbild mit homogenen Wortabständen. John S. Gourlay hat dieses Verfahren 1987 auf die grundlegenden Anforderungen des Notensatzes übertra-gen.21 Die zentrale Idee ist dabei relativ einfach: Zwischen allen Taktstrichen und Ak-kordgruppen werden virtuelle Federn unterschiedlicher Länge angebracht, welche im entspannten Zustand die Grundabstände der Akkordgruppen widerspiegeln. Durch Strecken und Stauchen können die Takte nun in ihrer Breite variiert werden, wobei sich die Abstände relativ zum Grundabstand verändern. Aus physikalischer Sicht bedeutet die Längenänderung der Federn einen Kraftaufwand, der betragsmä-ßig umso größer ausfällt, je stärker die Zeilen gestreckt oder gestaucht werden. Die-ser Wert ist folglich ein einfaches Maß für die Güte einer Umbruchstelle. Wenn bei -spielsweise eine potentielle Akkolade bestehend aus den Takten eins bis drei durch Hinzufügen eines weiteren Taktes weniger stark gestreckt werden muss, um sie auf die vorgegebene Länge zu bringen, dann dürfte die viertaktige Variante mit hoher Wahrscheinlichkeit die bessere Wahl sein, weil die Abweichung von den Grundab-ständen geringer ausfällt.Der Algorithmus von Gourlay ermittelt nun die Menge aller Umbruchstellen, für die der Kraftaufwand aller resultierenden Akkoladen minimal ist. Die folgende Ab-bildung zeigt den Graph mit den möglichen Umbruchstellen für die ersten 16 Takte von Chopins Prélude op. 28, Nr. 22. Als Vorgabe wurden ein Notenlinienabstand von zwei Millimetern und eine Akkoladenlänge von jeweils 19 Zentimetern ge-wählt. Die runden Knoten repräsentieren dabei die Taktstriche, an denen ein Zeilen-umbruch theoretisch stattfinden kann und eine Kante zwischen zwei Knoten be-zeichnet eine mögliche Akkolade, die mit der angegebenen Kraft auf die vorgegebe-ne Breite gebracht werden kann. Negative Werte bedeuten, dass die Akkolade in ih-rem Grundzustand zu lang ist und mit der jeweiligen Kraft gestaucht werden muss. Positive Werte bedeuten analog dazu eine Streckung. Der fett markierte Pfad kenn-zeichnet die optimale Akkoladenfolge, die sämtliche Takte einschließt und die ge-ringste Kräftesumme besitzt:22 20 Vgl. Donald E. Knuth und Michael F. Plass: Breaking Paragraphs into Lines, in: Software: practice & experience 11 (1981), S. 1119–1184.21 Vgl. John S. Gourlay: Spacing a Line of Music.Technical Report, Ohio 1987.22 In dem Graph fehlen die Takte 1, 2 und 3. Sie wurden vom Algorithmus als mögliche Umbruchstellen