92 Martin Gieseking lich. Für die Abstände gilt dabei, dass die Systeme einer Akkolade mindestens vier Linienzwischenräume voneinander entfernt sein müssen und kein Notationsele-ment in den Bereich des Nachbarsystems hineinragt. Die Abstände zwischen den Akkoladen dürfen die zwischen den Systemen nicht unterschreiten.24 Wird das Federmodell nun auf die Vertikale übertragen, indem die virtuellen Fe-dern senkrecht zwischen den Akkoladen und den Notensystemen angebracht wer-den, dann kann für jede Akkoladenfolge berechnet werden, ob sie durch Strecken oder Stauchen zum Füllen einer Seite geeignet ist und welche Kraft dazu benötigt wird. Auf diese Weise lassen sich analog zum Zeilenumbruch geeignete Seitenum-brüche berechnen, die den gesamten Kraftaufwand minimieren. Bezieht man diese Überlegungen in den Gourlay-Algorithmus mit ein, so liefert er auf Grundlage der gewählten Parameter die bestmöglichen Akkoladen- und Seitenumbrüche zu einer vorgegebenen Menge von Takten.25 Dieses rein mathematische Vorgehen findet natürlich weder optimale Wende-stellen noch berücksichtigt es andere optisch relevante Aspekte. Zu diesem Zweck ist der Algorithmus um weitere Parameter zu ergänzen, welche die Berücksich-tigung einer Trennstelle erzwingen, begünstigen, erschweren oder ganz verhindern. Diese müssen aber vom Anwender gewählt werden, da der Computer nicht in der Lage ist, zuverlässig über die musikpraktische Qualität einer Umbruchstelle zu ent-scheiden. Insgesamt würde eine Implementation dieses Verfahrens in Finale und Si-belius aber bereits ein mächtiges Werkzeug bereitstellen, um zumindest konventio-nell notierte Musik noch effizienter aufbereiten zu können. Derzeit bleibt dem An-wender nur die Möglichkeit, das gesamte Layout auf Grundlage der persönlichen Erfahrung zu bewerten und zu optimieren. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für das freie Notensatzsystem LilyPond, das zahlreiche aufwändige Techniken imple-mentiert, um automatisch professionell gesetzte Noten zu erzeugen. Die Resultate sind insbesondere im Hinblick auf die hier angesprochenen Aspekte tatsächlich deutlich besser als die von Finale und Sibelius, können mit manuell nachbearbeite-ten Notenseiten aber noch nicht mithalten.Obwohl Welten zwischen den Möglichkeiten heutiger Computer und denen der teuren, schrankgroßen Rechner von vor 30 Jahren liegen, ist die komplette Automa-tisierung des Notensatzes unter Beachtung aller zu einem perfekten Notenbild füh-renden Feinheiten bisher nicht möglich. Die unterschiedlichen und zahlreichen No-ten- und Zeichenkonstellationen bedürfen wie zur Zeit des Notenstichs ein geschul-24 Vgl. Gould: Behind Bars, S. 488 (s. Anm. 3).25 Bei langen Musikstücken gibt es häufig mehrere alternative Umbruchsequenzen, deren errechnete Gütemaße sich nur sehr wenig voneinander unterscheiden. Hier ist dann nicht unbedingt einzuse-hen, dass die Sequenz mit dem höchsten Gütewert auch das von professionellen Notensetzern favori-sierte Ergebnis darstellt. Einige vom Autoren durchgeführte Experimente haben ergeben, dass die manuell gewählten Umbrüche gestochener Notenseiten oft nur der zweit- bis viertbesten vom Com-puter berechneten Alternative entsprachen, auch wenn letztere ein gutes Notenbild produzieren. Eine Annäherung an die Umbrüche gestochener Noten konnte durch eine Nachverarbeitung der gü-temäßig innerhalb eines Toleranzbereichs liegenden Alternativen erreicht werden: Die Akkoladense -quenz mit der kleinsten quadratischen Abweichung vom Mittelwert der horizontalen Federkräfte lie-ferte die jeweils größte Übereinstimmung mit den gedruckten Vorlagen.